Schockgefroren
ausziehen, um in etwas Warmes und Trockenes zu schlüpfen. Aber nicht vor diesem Mann. Nicht unter seinem stechenden Blick. Nicht, solange er seine Hände in den Taschen versteckt und mit ihnen dort herumspielt.
»Los!«, befiehlt er. »Ich sag’s nicht noch mal.« Er wird laut, seine Stimme klingt bedrohlich. Aber ich verharre regungslos, und auch er steht da wie angewachsen. Nur sein übler Geruch scheint sich zu verstärken. Als ob er schwitzt, obwohl es so kalt ist. Als ob er mich mit diesem Gestank einhüllen will. Er löst ein Gefühl der Ohnmacht in mir aus. Ganz hinten in meinem Kopf spukt noch immer der Satz herum: Hau ab, lauf davon. Aber viel lauter ist, was der Mann gesagt hat: »Du kommst da nicht raus!« Und ich weiß, dass er recht hat. Ich weiß, dass ich hier nicht rauskomme. Der Fremde steht vor der Schiebetür, ich kann keine andere Öffnung sehen, nur ein kleines Fenster, das von außen mit Brettern verrammelt ist.
»Jetzt reicht’s!«, sagt der Mann plötzlich. Er macht einen Satz nach vorne, packt mich mit beiden Händen, hebt mich hoch. Ich schreie auf. Der Mann ist stark. Er presst seine Hände um meine Hüften, und ich schreie wieder. Spielend leicht stemmt er mich in die Luft, und für einen Augenblick ist mein Gesicht auf einer Höhe mit seinem. Ich rieche seinen stinkenden Atem, ich sehe seine weit aufgerissenen Augen. Er stößt mich von sich, mit aller Kraft, und ich fliege durch den Raum, pralle mit Wucht gegen die Wand. Ich schreie, während ich zu Boden stürze. Es tut schrecklich weh, und nun kann ich die Tränen erst recht nicht mehr zurückhalten. Ich fange an zu heulen, schluchze hysterisch, aber die Stimme des Mannes bleibt kalt.
»Du machst, was ich will«, sagt er. »Oder ich schlage dich tot.«
Der Reporter stellt Frage um Frage. Schon bald wird mir klar, dass ich tatsächlich auf vieles keine Antwort habe. Doch irgendwo ganz hinten in meinem Kopf sind noch ein paar Bilder und Worte gespeichert, die in mein Bewusstsein drängen. »Wie kann es sein«, frage ich, »dass sie all die Jahre weg waren?« Die Frage stelle ich mir selbst, ich murmle sie vor mich hin, doch der Reporter hat gute Ohren. Er meint, er ist kein Psychiater, aber das sei normal bei Menschen, die traumatisiert sind.
Menschen, die traumatisiert sind, die Übles erlebten, ein Trauma erfuhren. Ich habe darüber gelesen und dabei versucht, mir einzubläuen: Zu diesen Menschen zähle ich nicht! Traumatisiert zu sein klingt wie ein Stigma; es ist eine Brandwunde, die dich zum Außenseiter abstempelt. Doch ich will das Gegenteil sein! Ich will ein Mensch wie jeder andere sein, jemand Normales mit einem normalen Leben, in dem normale Dinge geschehen. Wobei in meinem Leben ständig Dinge passieren, die überhaupt nicht normal sind. Doch am Tag, als mich der Reporter besucht, bin ich meilenweit davon entfernt zu akzeptieren, dass es für mich so ein Leben gar nicht geben kann. Ich bin auch weit davon entfernt, den Schock zu realisieren, der kommt, wenn man der Erinnerung erlaubt, ihren angestammten Platz einzunehmen.
Der Reporter schiebt ein Foto über den Tisch. Es ist ein Polaroidfoto, eines von denen, die man in den 80er-Jahren mit Kameras anfertigte, die Fotos selbst entwickeln konnten. Eine Stimme in mir sagt, niemand kann von dir erwarten, dass du dir dieses Foto anschaust. Niemand kann dich dazu zwingen. Schmeiß den Mann raus. Und mit ihm den ganzen Plunder der Vergangenheit. Du kannst weiterleben wie bisher!
Aber die zweite Stimme ist stärker: Das will ich gar nicht, erklärt sie einfach. Ich will nicht länger davonlaufen! Und so nehme ich das Foto in die Hand und sehe es mir an. Es ist in einem Büro aufgenommen. Im rechten Bildausschnitt ist ein Schreibtischstuhl mit blauem Bezug zu erkennen. Daneben steht ein kleiner Junge verloren vor einer großen Landkarte. Wer das Foto gemacht hat, verschwendete keinen Gedanken daran, dass sich der Blitz in der Karte spiegeln wird. Er machte das Foto eilig, als ob der Junge in Kürze verschwinden könnte. Der Junge trägt einen grünen Pullover, der ihm um einige Nummern zu groß ist. Dazu etwas, was mir auf den ersten Blick wie ein Rock vorkommt oder ein Teil einer schmutzigen Küchenschürze. Aus ihr lugt eine schwarze Strumpfhose hervor, die ebenfalls viel zu groß ist. In ihr sehen die Füße des Jungen aus, als habe er Schuhgröße 46. Sein Gesicht ist traurig, müde, verwirrt und unschuldig. Das sind die ersten Worte, die mir einfallen. Es ist das
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