Schockgefroren
in der Welt kann man so was tun? Ein neunjähriges Kind zwei Tage nach seinem Martyrium auf die Folgen »einer vorsätzlichen oder fahrlässigen falschen und unvollständigen eidlichen Aussage« hinzuweisen? Doch in diesen Worten steht das hier. Geschrieben im wackligen Schriftsatz einer altersschwachen Schreibmaschine.
»Das waren nicht nur die Zeiten vor dem Internet«, sage ich. »Es waren die Zeiten vor dem Computer.« Der Reporter lacht leise. Es ist das erste Lachen, seit er gekommen ist. Für einen Moment fällt die Anspannung von mir ab. Doch der Augenblick währt nur kurz. Dann lese ich meine Aussage:
›Ich kann mich an die ganze Zeit noch gut erinnern‹, steht da. ›Ich bin an der Endhaltestelle ausgestiegen. Ich bin den Weg nach Hause gegangen, der hier vom Wohnzimmerfenster aus links an dem gelben Haus vorbeiläuft.‹
»Diese Befragung muss bei uns zuhause stattgefunden haben«, sage ich. »Wie sonst könnte ich das so formulieren?« Der Reporter nickt zustimmend. Ich lese weiter: ›Ich habe zuerst noch mit Cäsar gespielt. Wie der Mann heißt, dem der Hund gehört, weiß ich nicht.‹
»Komisch«, sage ich. »An einen Hund kann ich mich nicht erinnern. Aber an den Schneemann. Den wollte ich bauen. Von dem ist hier aber nicht die Rede.«
Da haben meine Augen schon die nächsten Zeilen überflogen. ›Das letzte Stück‹, steht da, ›dort an dem grünen Baum, bin ich schräg über die Wiese gerannt. Ich wollte schnell nach Hause. Ich soll um 8 Uhr zu Hause sein. Es war ja schon viel später. Von dem Mann habe ich erst etwas gemerkt, als er mich unten an dem Gebüsch an unserer Hausecke mit dem Arm um den Hals gefasst hat. Er hat mich in der Armbeuge richtig hochgehoben.‹
Unwirsch schüttle ich den Kopf. »Das stimmt nicht. Ich habe ihn bereits im Bus gesehen. Ich habe gesehen, wie er ausstieg. Ich habe den Schatten gesehen. Warum steht davon nichts im Protokoll?«
»Wahrscheinlich hat man Ihnen eine bestimme Art von Fragen gestellt«, höre ich den Reporter. »Fragen wie: Kannst du dich an das erinnern? Kannst du dich an jenes erinnern? War es so, oder war es anders? Damit sind die Antworten schon vorgegeben. An Ihrer Stelle würde ich der eigenen Erinnerung mehr vertrauen als dem Protokoll. Vergessen Sie nicht: Polizei und Gerichte hatten damals kaum Erfahrung mit Kindesentführungen, bei denen das Opfer mit dem Leben davonkam. Ich bezweifle, dass sich speziell geschultes Personal um Sie gekümmert hat. Das Protokoll liest sich, als ob die Fragen von jemand gestellt wurden, der keine Ahnung hat von Kindern, die missbraucht wurden.«
Was der Reporter sagt, klingt wie eine Warnung: Sei auf der Hut, wenn du weiterliest. Denk daran: Vielleicht wurde vieles, was da steht, dir in den Mund gelegt. Vielleicht führten Suggestivfragen zu diesen Antworten. Vielleicht solltest du nicht weiterlesen. Ich tue es trotzdem: ›Vor Schreck habe ich nicht gerufen. Er ist dann mit mir weggegangen. Bis an die Autobahn kannte ich die Gegend. Dann nicht mehr. Das mit dem Arschficken ist ungefähr jede Woche einmal vorgekommen …‹
Der Übergang kommt so abrupt, dass ich nicht darauf vorbereitet bin. In meinen Schläfen beginnt es zu pochen. Ich merke, wie mein Mund auf einen Schlag austrocknet. Dann beginnt die Schrift vor meinen Augen zu tanzen. Meine Hand tastet nach der Serviette, dabei stoße ich die Kaffeetasse vom Tisch. Ich höre nicht, wie sie auf dem Fußboden zerschellt. Mit fahrigen Bewegungen wische ich mit der Serviette über mein Gesicht. Die Schreibmaschinenschrift wird wieder klarer. Ich zwinge mich weiterzulesen: ›Erst ging das nicht. Nach ungefähr einer Woche und danach hat der Mann seinen Pimmel bei mir in den Popo bekommen. Ganz ausziehen musste ich mich nur manchmal. Es war ja kalt. Aber jeden Tag, oder fast jeden Tag, machte der Mann seine Hose auf. Ich musste dann an seinem Pimmel reiben, bis was rauskam. Ich musste seinen Pimmel dann noch in den Mund nehmen. Der Mann hat mich auch …‹
Auf einmal stoße ich das Papier weg, als sei es elektrisch aufgeladen. Wieder schießen mir Tränen in die Augen. Ich wische sie weg, und da entdecke ich die zersprungene Kaffeetasse. Ein brauner Fleck breitet sich auf dem Teppich aus. Oh, wie ich es hasse, wenn es schmutzig wird! Da gebe ich mir Tag für Tag Mühe, alles sauber und ordentlich und rein zu halten, und dann genügt eine Tasse, und die ganze Anstrengung ist umsonst. Wie so vieles umsonst ist: eine behütete Kindheit, die einen
Weitere Kostenlose Bücher