Schockgefroren
Namen nicht vergessen.
Er hat ihn mir zwar nie gesagt, doch ich fand ihn selbst heraus. Das war ein Wendepunkt gewesen, einer von vielen kleinen Wendepunkten, die mein Überleben sicherten.
Er hieß …
Ich nehme den Stift und forme ein schönes A. Dann lege ich den Stift weg. Ich bin noch nicht bereit, diesen Namen aufzuschreiben.
Ich liege wach.
Ich denke und grüble, ich grüble und denke. Wieso bin ich hier, wo sind meine Mama und mein Papa, wieso ist das alles passiert, wo sind meine Mama und mein Papa, wieso bin ich hier, wieso ist das alles passiert? Neben mir liegt der fremde Mann. Er schnarcht. Dort, wo das Fenster ist, dringt Tageslicht durch die Bretter.
Es ist die erste Nacht in deinem Leben, in der du nicht geschlafen hast, denke ich.
Der Satz reißt mich aus dem Gedankenkreisel. Ich will mich aufrichten, aber ich schaffe es nicht. Die Schmerzen sind überall. Sie sind in meinem Kopf, auf meinem Gesicht. Sie sind in meinen Armen, meiner Brust und meinem Rücken. Mein Popo schmerzt, und da vorne, wo er mich angefasst hat, tut es sehr weh. Meine Beine schmerzen, und ich glaube nicht, jemals wieder auf meinen Füßen stehen zu können. Überall habe ich blaue Flecken. Im Augenblick wage ich nicht, mich zu bewegen. Ich habe schreckliche, furchtbare, herzzerreißende Angst davor, der fremde Mann könnte aufwachen und wieder das tun, was er gestern getan hat. Ich merke, wie Tränen aufsteigen, und schlucke sie hinab. Das tut auch schrecklich weh. Mein Hals fühlt sich an wie damals, als ich krank war und eine Woche im Bett verbringen musste. Außerdem habe ich höllischen Durst. Neben mir regt sich der Mann, und ein widerlicher Gestank steigt von ihm auf. Ich versuche, weiter von ihm abzurücken, doch das Bett ist nicht breit genug. Er hat eine Decke um sich geschlungen, sie trennt unsere Körper. Ich bin froh, dass die Decke da ist, obwohl auch sie völlig verschmutzt ist.
Schläft ein Teufel?, frage ich mich plötzlich. Tut er nur so? Ich probiere es nochmals und richte mich langsam auf. Ich trotze den Schmerzen, doch muss ich mir auf die Lippen beißen, um nicht aufzuschreien. Ich darf nicht schreien, sonst wacht der Teufel auf, packt mich und drückt seinen widerlichen, ekligen Mund auf meinen. Ich bewege mich wie eine Schnecke, Zentimeter um Zentimeter, bis ich, auf den Unterarmen aufgestützt, das Zimmer überschaue. Mitten unter Lumpen, Kartons, zerrissenen Kleidern – meinen zerrissenen Kleidern –, leeren Dosen, Bierflaschen und alten Schuhen liegt ein Messer. Doch etwas stimmt mit meinen Augen nicht. Das Zimmer verschwimmt vor meinem Blick, alles läuft ineinander, was richtig war, wird falsch, das Falsche richtig. Aber das Messer. Es ist für mich unter all dem Unförmigen deutlich zu erkennen. Die Zacken sehen spitz aus, man kann damit Brot und Wurst zerschneiden. Vielleicht auch einen Teufel? Der Gedanke füllt meinen Kopf aus, er ist ganz deutlich und ganz klar, er erschreckt mich. Da ist der Mann, der mich furchtbar quält, da ist das Zimmer, aus dem ich nicht fliehen kann, da ist das Messer: Ich muss nur unbemerkt aus dem Bett kommen, muss es in die Hände kriegen, und dann …
Dann …
Dann habe ich keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich werde viel Kraft brauchen, aber ich weiß nicht, wo am Körper die beste Stelle für das Messer ist. Ich erinnere mich, wie ich mir selbst beim Schneiden einer Haselnussstaude einmal in den Finger geschnitten habe. Es wollte nicht aufhören zu bluten, aber reicht das? Wird der Mann es nicht schnell merken, wenn ich ihm in den Finger schneide? Wird er ein Pflaster draufkleben oder einen Verband darumwickeln? Und dann? Dann wird er sich rächen.
Ganz gewiss wird er sich rächen.
Er ist der Teufel, und der Teufel rächt sich immer.
Aber das Messer. Ich kann den Blick nicht davon abwenden. Ich bin neun Jahre alt, ich habe nicht so viel Kraft wie der Mann, ich kann mich nicht mit ihm messen. Er wirft mich auf den Boden, wie es ihm gefällt, und wenn ich nach ihm trete, lacht er nur. Er wird meine Hand festhalten, die Hand mit dem Messer wird er lachend festhalten, er wird es mir entreißen, und er wird sich rächen.
Ganz gewiss wird er sich rächen.
Ich merke, wie mich der Mut verlässt. Ich kann das nicht. Das Messer ist keine zwei Meter von mir entfernt, aber ich werde es niemals erreichen. Und falls ich es schaffe, kann ich ihn nicht damit stechen. Und es wird nicht einmal daran liegen, dass ich nicht genug Kraft habe. Sondern weil ich keinen
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