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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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nicht mehr paddeln und werde wie von selbst an den Strand getragen. In diesem Augenblick taucht die Flosse vor mir auf. Sie ist fünf Meter von mir entfernt, ragt aus dem Wasser wie ein Dreieck, kommt schnell auf mich zu. Dann ist sie auf einmal verschwunden, und im nächsten Augenblick stößt etwas mit Wucht gegen die Luftmatratze. Neben mir taucht ein Maul mit riesigen Zähnen darin auf. Ich schreie wie am Spieß, rutsche von der Matratze, und im selben Moment hat der Hai sie im Maul. Er schüttelt sie hin und her, und eine Luftkammer platzt mit lautem Knall. Das Wasser schäumt, ich schlage in Panik um mich. Auf einmal halte ich die Matratze in beiden Händen. Zwei Kammern sind noch ganz. Ich ziehe mich hoch, fange an zu paddeln. Wie wild paddle ich, und gleichzeitig schreie ich mir die Lunge aus dem Leib. Als ich den Strand erreiche, kommen Mama und Papa angelaufen.
    »Was ist denn los, was hast du?«
    »Ein Hai! Ein Hai! Er will mich fressen!«
    Ich rutsche von der Matratze, und meine Mama hält sie hoch. Der obere Teil ist zerfetzt.
    »Was hast du denn da angestellt?«, fragt sie. »Bist du gegen einen Stein gestoßen?«
    »Kein Stein, ein Hai! Ein riesiger Hai!«
    Ich kann nicht verstehen, wie meine Eltern so ruhig bleiben können, wo da draußen ein Monster lauert, das mich fressen will. Das möchte ich ihnen klarmachen, doch meine Mama schneidet mir das Wort ab. »Du spinnst«, sagt sie. »Oder hast du einen Sonnenstich?« Sie hält mir ihre Hand an die Stirn. »Der Junge glüht ja. Wo hast du nur deine Mütze gelassen?«
    Aber die Matratze, will ich rufen, ein Stein kann doch eine Matratze nicht so kaputt machen! Etwas hält mich zurück. Die Erwachsenen glauben mir nicht. In ihrer Welt gibt es keine Haie, zumindest nicht am Strand von Calpe. Ich sage nichts. Doch ich weiß: Da draußen ist etwas. Es ist hinter mir her. Und eines Tages wird es mich erwischen.
    Ich schaue auf die krakelige Zeichnung mit dem Hai. Unwillkürlich muss ich lachen. Ich hatte mir damals tatsächlich eingebildet, dass … obwohl … war es nicht so gewesen? Warum habe ich so lange nicht mehr daran gedacht? Und warum kommt diese Erinnerung jetzt zurück, nachdem mich ein Reporter aufsuchte, um über meine Entführung zu reden? Ich sollte das wirklich mal aufschreiben, denke ich. Ich sollte mich an die Arbeit machen und alles aufschreiben. Die Erinnerung spielt manchen Schabernack, doch wer sie aufs Papier bringt, kann dahinterblicken. Da ist aber auch schon wieder eine andere Stimme, die nölt: Wozu die Mühe? Wieso sich dieser Arbeit aussetzen? Ein Hai, der an einem flachen Mittelmeerstrand deine Luftmatratze zerfetzt hat, vergiss das besser! Ab mit dem Hai in die unterste Schublade. Doch so einfach ist das nicht, nachdem diese nun aufgesprungen ist. So schnell lässt sie sich nicht wieder schließen. Auf einmal will ich es wissen. Gibt es überhaupt Haie im Mittelmeer? Google wird es wissen. Ich gehe ins Schlafzimmer, wo mein Notebook steht. Ich fahre den Computer hoch, gebe »Haiattacke« und »Mittelmeer« ein. Innerhalb weniger Sekunden habe ich Ergebnisse: 123 Haie wurden seit 1878 im Mittelmeer gesichtet, acht Haiunfälle seit 1958 registriert. Ein Satz fällt mir ins Auge: »Die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, ist höher, als von einem Hai angegriffen zu werden.«
    Doch die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, ist auch höher als die Gefahr, als Neunjähriger entführt zu werden. Sie ist sogar sehr viel höher. Trotzdem ist es mir passiert.
    Wenn ich schon mal am Computer sitze, könnte ich das Ganze doch aufschreiben, denke ich. Sofort meldet sich der alte Nörgler in mir zu Wort: Du sitzt häufig am Computer und schreibst nichts auf. All die Nächte, in denen du nicht schlafen kannst, in denen du um drei Uhr morgens oder vier Uhr morgens oder fünf Uhr morgens auf Facebook rumhängst, da willst du auch nichts aufschreiben. Komm, schalte den Fernseher an. Kauf dir ein paar Töpfe. Gönn dir was. Und vergiss die Sache.
    Aber heute kann die Stimme plärren, so laut sie will. Der Hai, der Zweifel meiner Eltern und meine Gewissheit, etwas ist hinter mir her, geben den Ausschlag. Ich öffne eine Datei und nenne sie schlicht und einfach »Meine Erinnerung«. Dort schreibe ich hinein: Ich bin sechs Jahre alt, wir sind in Urlaub in Spanien, in einem Ort namens Calpe …

Ich erwache aus tiefem Schlaf.
Oder war ich bewusstlos? Es spielt keine Rolle, weil sich nichts geändert hat. Ich bin nicht zuhause aufgewacht, es ist

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