Schockgefroren
Menschen absichtlich stechen will. Nicht einmal einen Menschen in Teufelsgestalt.
Ich spüre eine Bewegung neben mir. Der Mann wälzt sich herum, grunzt, schlägt die Augen auf. Ich lasse mich zurücksinken und stelle mich schlafend. Vielleicht lässt er mich dann in Ruhe. Vielleicht passiert auch ein Wunder. Wenn ich einschlafe, wenn ich endlich schlafen kann, wache ich zuhause wieder auf. Dann merke ich, dass alles nur ein Traum war. Ein unheimlicher Traum, ein schrecklicher Alptraum, aber am Ende bloß ein Traum. Ich werde aufwachen, nehme ich mir vor, und in meinem eigenen Bett liegen. Wenn ich dann die Augen aufschlage, sehe ich das Poster mit dem Porsche über mir, das Bücherregal mit meinen Masters-of-the-Universe-Figuren. Die Tür wird aufgehen, und Mama fragt, was ich zum Frühstück will. Vielleicht werde ich kurz weinen, weil ich so schlimm geträumt habe. Doch sobald ich aufgestanden bin, wird der Traum verblassen, und bald ist er nur noch eine undeutliche Erinnerung, die irgendwann weg sein wird.
Ich werde einschlafen, ich werde aufwachen, und alles ist vorbei.
Neben mir setzt sich der Mann auf. Er packt mich, presst seinen Mund auf meinen, seine Zunge schiebt sich tief in meinen Rachen. Mit einer Hand greift er nach meinem Pimmel. Er drückt mich tief in die Matratze, wälzt sich auf mich. Ich kann seinen Pimmel auf meinem Bauch spüren. Hart ist er und groß.
Bitte, lieber Gott, bitte, mach …, denke ich noch. Dann wird mir schwarz vor Augen.
Vor mir liegt das Blatt Papier, auf dem die drei Sätze stehen: Er hat mir Gewalt angetan. Er wusste, was er tat. Er hat das alles in Pornos gesehen. Und dann die beiden Worte: Er hieß … Dahinter habe ich das A geschrieben. Jetzt macht sich meine Hand selbstständig. Sie schreibt nicht den Namen aus. Sie malt etwas. Sie malt einen Fisch. Einen großen Fisch mit einem noch größeren Maul. Darin sind viele spitze Zähne. Ich kenne den Fisch. Es ist ein Hai. Er will mich fressen.
Ich bin sechs Jahre alt, wir sind in Urlaub in Spanien, in einem Ort namens Calpe. Es ist schön hier, das Meer ganz nahe, wir sind jeden Tag am Strand. Meine Familie ist mitgekommen, mein Bruder, meine Schwestern, sogar Petra, die Älteste von uns. Sie will mich davon überzeugen, dass Gott im Himmel lebt und alles sieht. »Egal, was du tust«, sagt sie zu mir, »Gott sieht es. Gott weiß es. Ihm kannst du nichts vormachen.«
Ich bin überzeugt davon, dass sie recht hat. Gott sieht alles. Gott weiß alles. Ihm kann man nichts vormachen. Da oben im Himmel wohnt er, im Himmel über Calpe, der sich riesengroß über mir ausbreitet. Von dort, wo er das Meer berührt, erstreckt er sich im hohen Bogen über mich und endet erst weit dahinten im Inneren des Landes. Ich stehe am Strand, den Kopf im Nacken, und drehe mich unter diesem Himmel wie ein Kreisel. Immer schneller und schneller drehe ich mich, bis mir ganz schwindelig wird und ich lachend in den warmen Sand falle. Vor mir schwappen kleine Wellen ans Land, das Meer glitzert wie ein Diamant. Auf einmal höre ich eine Stimme.
»Lass dich nicht täuschen«, sagt sie. »Das Meer ist gefährlich. Nimm dich in Acht.«
Verwirrt blicke ich mich um. Weit entfernt kann ich meinen Bruder sehen, wie er mit einem Fußball spielt. Dort sind auch meine Eltern, sie haben es sich auf Liegen bequem gemacht. Der Sonnenschirm ist aufgespannt. Von meinen Schwestern ist nichts zu entdecken. Auch sonst ist kein Mensch in meiner Nähe.
»Hallo«, sage ich. »Bist du Gott?«
Ich lausche, aber bekomme keine Antwort. Langsam erhebe ich mich und gehe zu meinen Eltern. Ich gehe rückwärts, denn ich will meine Fußspuren beobachten. Unter dem Sonnenschirm wartet meine Luftmatratze auf mich. Die werde ich mir schnappen und hinab zum Wasser gehen. Das ist hier ganz flach, ich kann richtig weit rein. Ich kann schon schwimmen, ich habe bereits den Freischwimmer und werde bald den Fahrtenschwimmer machen. Mama sagt trotzdem: »Geh nicht weiter rein, als du stehen kannst.« Und ich habe auch nicht vor, ins tiefe Wasser zu gehen. Aber ich bin auch nicht ängstlich. Ich habe ja die Luftmatratze, auf der will ich mich ein wenig von den Wellen treiben lassen. Ich werfe mich bäuchlings auf sie drauf und paddle los. Ich paddle mit beiden Armen und komme gut voran. Irgendwann schaue ich auf und merke, dass das Ufer schon weit entfernt ist. Die Sonne brennt heiß auf mich herab, und ich denke, ich sollte umdrehen. Wenn ich auf den Wellen mitreite, muss ich auch
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