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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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immer so still in meinem Leben, aber normalerweise macht mir das nichts aus. Heute tut es das. Ich schalte rasch das Radio an. Auf den Autobahnen rund um Frankfurt, Wiesbaden und Mainz stauen sich die Autos. Ich bin dankbar für die Verkehrsnachrichten. Sie helfen mir, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren und an meine Zukunft zu denken, anstatt ständig in die Vergangenheit abzutauchen. Ich nehme mir noch einmal den Brief vor, den das Hotel schickte: Sie bieten mir einen Saisonvertrag als Chef de Rang an. Obwohl ich viel herumkomme, in Kaprun war ich bisher noch nicht gewesen. Ich weiß von Kollegen, dass es einen exzellenten Ruf als Urlaubsort hat, in dem man das ganze Jahr über Ski fahren kann. Es gibt ein Thermalbad, es gibt einen Nationalpark, es gibt zwei Millionen Übernachtungen pro Jahr. Anders gesagt: Dort wartet jede Menge Arbeit auf mich. Und es gibt ein paar Stauseen, in denen sicher keine Haie herumschwimmen. Das sage ich zu mir selbst, halb im Spaß, halb im Ernst. Momentan scheint sich die Vergangenheit, wann immer ihr danach ist, in den Vordergrund zu drängeln. Umso wichtiger, Nägel mit Köpfen zu machen. Ich nehme einen Stift und setze meinen Namen unter den Arbeitsvertrag. Selbst gelesen, genehmigt und unterschrieben von Sascha Buzmann.
    »Verdammt nochmal«, schimpfe ich. »Hör auf damit! Es ist vorbei. Hast du das nicht kapiert? Vorbei!«
    Aber ich weiß, dass ich mir damit etwas in die Tasche lüge. Es ist nicht vorbei, weil es gerade erst anfängt. Als kurz darauf das Telefon klingelt und sich der Reporter meldet, bin ich fast erleichtert. Es ist einfacher, wenn er mir Fragen stellt. Ich sage ihm, er kann vorbeikommen, wann immer er will. Ich sage ihm, ich bin hellwach. Ich sage, ich habe so lange geschlafen wie schon seit ewiger Zeit nicht mehr, und ich werde dieses Mal gewiss nicht vor Müdigkeit beinahe vom Sofa fallen.
    »Ich bin bereit«, sage ich.
    Als er auftaucht, bringt er Hunderte von Fragen mit. So kommt es mir jedenfalls vor. Ich beantworte sie alle, soweit ich in der Lage bin. Manchmal kann ich mich nicht erinnern. Manchmal will ich nicht darüber sprechen. Manchmal denke ich, dass dort, wo die Erinnerungen sind, bei mir nur ein großes Loch ist.
    Der Reporter sieht das anders. Er findet es großartig, wie gut ich mich erinnern kann. Ich zeige ihm, was ich aufgeschrieben habe, und er lobt mich dafür. Er fragt, ob ich mich in der Lage fühle, mit ihm und einem Fotografen dorthin zurückzukehren, wo der Wohnwagen stand.
    »Ich habe es Ihnen gesagt«, antworte ich. »Ich bin bereit. Selbst dazu.«
    Meine Stimme klingt selbstbewusst. Dabei kann ich mir dessen gar nicht sicher sein. Ich habe den Ort, wo der Wohnwagen stand, nie aufgesucht. Nicht in meiner Jugend, nicht als Erwachsener. Wozu auch? Nun aber gibt es einen praktischen Grund: Der Reporter will Fotos machen. Sie sollen zusammen mit seinem Artikel im Nachrichtenmagazin erscheinen.
    »Wann geht’s los?«, frage ich. Meine Stimme klingt, als ob wir vereinbart hätten, ins Kino zu gehen oder um die Ecke einen Schluck trinken. So kennt man mich: immer gut gelaunt, immer höflich, immer zuvorkommend, immer aufmerksam und liebenswürdig. Jemand will mit mir Fotos machen? Alles klar. Am Ort, an dem ich auf brutalste Weise vergewaltigt wurde? Sicher doch, wann geht’s los? Keiner sieht mir an, welche Stürme in mir toben. Keiner sieht, wie es mir tatsächlich geht. Weil ich das nicht will. Ich will nicht, dass man mit Fingern auf mich zeigt und sagt: Du Armer! Was du durchgemacht hast! Deshalb habe ich eine Mauer um mich errichtet, nicht hart und abweisend, sondern gut gelaunt, höflich, zuvorkommend, aufmerksam und liebenswürdig.
    Es ist trotzdem eine Mauer. Sie schützt mich.
    »Warum nicht gleich?«, sagt der Reporter. »Ich habe einen Kollegen vor Ort, der kann zu uns stoßen.«
    Ich schrecke auf. Für einen Moment habe ich fast vergessen, wer bei mir ist. Doch schon bin ich wieder ich selbst. Schon bin ich wieder höflich und zuvorkommend. Ich springe auf.
    »Dann hole ich meine Jacke«, sage ich. »Bei der Kälte können Handschuhe sicher auch nicht schaden.«
    Wir brauchen zwanzig Minuten mit dem Auto, und ich glaube, der Reporter merkt nicht, dass es lange zwanzig Minuten für mich sind. Oder bemerkt er es doch? Ich habe auf dem Beifahrersitz Platz genommen, und er schaut immer wieder zu mir rüber. Er kennt den Weg. Er sagt, er sei schon dort gewesen. Warum bin ich nicht überrascht? Natürlich ist er dort gewesen.

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