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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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Er ist ein Reporter. Er hat sich vorbereitet. Er kam zu dir mit deiner eigenen Geschichte. Er weiß mehr darüber als du selbst.
    Der Ort liegt in Mainz-Kastel, dem Stadtteil der rheinlandpfälzischen Landeshauptstadt auf der anderen Seite des Rheins. In alten Zeiten wollten die Mainzer beide Ufer beherrschen, also bauten sie eine Wehranlage ans gegenüberliegende Ufer. Das Kastell. Irgendwann verschwand das eine »l« aus dem Namen. Es stimmt also nicht, wenn Leute behaupten, auf der einen Seite des Rheins liegt Mainz, auf der anderen Wiesbaden. Mainz liegt auf beiden Seiten. Im restlichen Deutschland ist das vielleicht nicht so wichtig, doch hier, an der Grenze zweier Bundesländer, legt man einigen Wert darauf. Ich bin in Wiesbaden entführt worden, aber in Mainz gefangen gehalten. Den Fluss musste ich dazu nicht überqueren.
    Mit solchen Gedankenspielchen lenke ich mich ab. Wie einer, der zum Zahnarzt muss und weiß, dass es wehtun wird. Weil der Zahnarzt bohren will. Weil er so tief bohren will, dass er die Nerven berührt. Da ist es gut, wenn man sich ablenken kann. Hier Mainz, dort Wiesbaden. Und das »l« verschwand aus dem Namen.
    Auf einmal geht alles ganz flott. Wir biegen von einer vielbefahrenen Straße ab, landen auf einem ungeteerten Weg. Heute ist das alles ganz einfach, das Navi macht’s möglich. Kein Umherirren mehr über Felder. Keine Frage, wo geht es denn nach Hochheim. Einfach ins Auto setzen, Motor anmachen, schon ist man da. Jetzt kann ich mich nicht länger ablenken. Aber ich kann noch immer gut gelaunt, höflich und liebenswürdig sein.
    »Da wären wir«, sage ich, öffne die Beifahrertür und steige aus. Ein Mann kommt auf uns zu. Der Reporter stellt ihn als Kollegen vor, verantwortlich für die Fotos. Wir schütteln uns die Hand. Dann gehe ich langsam ein paar Schritte vom Auto weg. Das ist, als verlasse ich eine rettende Insel und steige in tiefes Wasser. In dem Haie lauern können, wie ich weiß.
    Vor mir wildes Gestrüpp. Darin verstreut Kisten, Schrott, Müllsäcke, die Reste eines Zauns. Nein, die Reste des Zauns. Eine Stimme, die sagt: »Alles ist eingezäunt. Du kommst da nicht raus.« Diese Stimme kann nur ich hören, sie ist nicht für die Ohren des Reporters bestimmt.
    »Erkennen Sie etwas wieder?«, will er wissen. »Hier stand der Wohnwagen«, antworte ich. Das ist nicht schwer zu erraten. Verkohlte Teile liegen herum. Überreste eines Reifens, eine halbe Achse. »Ist nicht mehr viel übrig.«
    Während der Fotograf Bilder macht, will der Reporter wissen, ob ich enttäuscht sei? »Ja«, antworte ich. »Schon ein wenig. Ich dachte, ich würde mehr von früher entdecken.«
    So wird es später im Artikel stehen. Auf einem Foto sieht man mich, inmitten von Gestrüpp, Dornen, Büschen. Das Foto könnte überall aufgenommen worden sein, nichts weist auf die Vergangenheit hin. Ich trage eine blaue Jeans, eine schwarze Lederjacke und schwarze Handschuhe aus Vlies. Unter dem Bild steht: Ich dachte, ich würde hier noch mehr entdecken.
    Erst später wird mir klar, dass ich an diesem Tag nichts erwartet habe. Schon gar nicht, Spuren von früher zu entdecken. Obwohl ich bisher nie an den Ort des Geschehens zurückkehrte, weiß ich, dass da nichts sein kann. Im Artikel und in anderen, die kommen werden, wird man lesen können, dass nach meiner Befreiung wütende Bürger den Wohnwagen niederbrannten. Das ist nicht ganz richtig. Es waren keine wütenden Bürger gewesen, sondern Freunde aus meiner Jugendzeit. Freunde aus einer Zeit, als auch dem Letzten klar wurde, dass mit mir einiges nicht stimmt. Dass mein Leben aus den Gleisen gesprungen ist. Auch über diese Zeit wird der Reporter berichten. Er wird schreiben, nach gelegentlichen Hochs stürzt Sascha Buzmann immer wieder ab. Er wird schreiben, Sascha nimmt Drogen, wird mit Cannabis am Steuer erwischt, verliert für Jahre den Führerschein. Er wird schreiben, mehrere Beziehungen zu meist älteren Frauen scheitern. Er wird schreiben, dass ich enttäuscht bin, weil ich dachte, ich würde noch mehr von früher entdecken.
    Das ist alles nicht verkehrt. Doch da ist noch sehr viel mehr. Der Reporter hat die Tür zum Verlies meiner Erinnerungen geöffnet. Er hat die Tür einen Spalt weit aufgemacht, und was er dabei sah, genügte für seinen Artikel. Vielleicht hätte auch ich es dabei bewenden lassen können und den Rest der Erinnerungen für immer im Verlies bewahren.
    Aber es sollte anders kommen.
    Bei mir kommt es immer anders.
    Nachdem

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