Schockgefroren
schaffen gemacht, aber der funktioniert nicht. Jetzt probiert er es wieder, und tatsächlich wird es nach einiger Zeit wärmer. Der Ofen raucht und qualmt, aber was soll’s, wenn es endlich nicht mehr so kalt ist. Der Mann legt die Zwiebeln auf den Ofen, so, wie sie sind. Ganz. Ungeschält. Der Ofen zischt. Das Feuer droht auszugehen. Der Mann arbeitet am Ofen, in mir kämpfen zwei Welten. Die eine ist voller Schatten und still und friedlich. Ich soll zu ihr kommen, sagt diese Welt, dann wird alles gut. Die andere hat nur Zwiebeln zu bieten, und ich hasse Zwiebeln. Ich esse alles, was Mama kocht, nur keine Zwiebeln. Aber in dieser Welt gibt es Zwiebeln und auf einmal auch wieder Mama. Es ist das erste Mal seit geraumer Zeit, dass ich ihr Bild vor mir sehe. Wenn ich sie sehen kann, schmecken vielleicht sogar Zwiebeln gar nicht so schlecht, selbst wenn sie außen verbrannt und innen roh sind, selbst wenn ich sie mitsamt den Schalen hinabschlinge.
Ich schlinge sie mitsamt den Schalen hinab, dazu braucht es kein »Entweder-oder«, kein »Das isst du, sonst setzt es was«. Die Zwiebeln sind hervorragend, ich könnte noch mehr davon essen, aber mehr gibt es nicht. Stattdessen gibt es fürchterliche Bauchschmerzen. Stattdessen muss ich furchtbar pupsen, und das tut ärger weh als je zuvor. Stattdessen muss ich mal, ich muss sogar ganz dringend, aber hier gibt es kein Klo. Es gibt kein Klo und keine Dusche, es gibt nicht mal ein richtiges Waschbecken. Das kann auch Vorteile haben, denn der Mann sagt, wenn du scheißen musst, dann draußen. Er packt mich am Arm, drückt grob auf die vielen blauen Flecken, die ich habe. Ich stolpere hinter ihm her, wir verlassen den Wohnwagen.
Wir verlassen den Wohnwagen!
Eben dachte ich, dass ich sterben muss, und jetzt verlassen wir den Wohnwagen!
Die Luft draußen ist eiskalt und köstlich. Die Erde ist matschig, aber nie habe ich Schöneres gesehen. Der Mann schubst mich zum Bretterverschlag, der an den Wohnwagen angebaut ist.
»Da machst du hin«, sagt er. Ich versuche es. Es geht nicht. Trotz der Magenkrämpfe. Trotz des Bedürfnisses. Der Mann schaut zu, wie ich mich abmühe, dann sagt er: »Wirst dich schon noch dran gewöhnen.«
Ja, ich bin gut gelaunt, höflich, zuvorkommend, aufmerksam und liebenswürdig, und das macht mich zu einem guten Chef de Rang. Die Gäste wissen es zu schätzen, und meine Arbeitgeber wissen es ebenfalls zu schätzen. Es ist nicht zu übersehen: Ich mag meine Arbeit. Gerne lese ich den Gästen ihre Wünsche von den Augen ab und freue mich, wenn sie lobende Worte finden. Wenn sie sagen, wir kommen wieder. Vielleicht kommen sie sogar einmal in mein eigenes Restaurant, denn davon träume ich. Oder in mein Bistro. Ich stelle mir vor, wo es sich befindet: an einem belebten Platz einer großen Stadt; vielleicht am Frankfurter Römer oder am Wiesbadener Marktplatz. Fremde bleiben davor stehen und sagen, das sieht doch gut aus, lass uns mal reingehen. Ich habe bereits alles schön eingedeckt. Auf den Tischen liegt feinste Tischwäsche. Die habe ich so ausgebreitet, wie es meine Art ist, mit viel Wert auf den Bruch. So nennt man das Lichtspiel, das nur dann entstehen kann, wenn alle Deckservietten im Falz zum Fenster ausgerichtet sind. Ich weiß, dass eine heimelige Atmosphäre durch kleine, aber wichtige Details entsteht, und in dieser Hinsicht bin ich ganz schön pingelig. Weil ich will, dass meine Gäste als Fremde kommen und als Freunde gehen. Das habe ich in den besten Häusern gelernt, im Kempinski, im Hyatt, im Sheraton, im Dorint.
Es gibt zwei Besonderheiten in meiner Vita: Ich arbeite in den besten Hotels. Ich bleibe nirgends länger als ein paar Monate. Das fällt aber nicht weiter auf. Mein Beruf ist ein Saisonberuf. Viele meiner Kollegen sind wie Nomaden. Sie ziehen durch die Welt, sie arbeiten international, mal hier, mal dort. Doch meine Gründe weiterzuziehen unterscheiden sich von ihren. Ich sage, ich will lernen, lernen, lernen, und wenn ich nichts mehr lernen kann, packe ich mein Bündel und suche mir was Neues. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere ist nicht so glänzend: Es gibt immer einen Boss über mir. Egal, ob ich als Chef de Rang oder Restaurantleiter eingestellt werde, ständig sagt mir einer, wo’s langgeht. Gibt mir Befehle. Weiß alles besser. Das kann ich nicht ausstehen. Klar herrschen in unserer Branche raue Töne. Das bringt der Konkurrenzdruck mit sich, der Wettbewerb um die Gäste, die hohen Kosten, die
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