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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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dass er mich direkt vor unserem Haus geschnappt hat. Ich denke fieberhaft nach. Ist das gut oder schlecht, wenn er davon erfährt? Wieder brauche ich lange für meine Antwort. Wieder kann er sie nicht abwarten.
    »Ganz in der Nähe, wo der Bus hielt, stimmt’s?«, sagt er. »Du wolltest nach Hause.«
    Ich nicke. Die Erinnerung macht mich stumm. Wie lange ist das her? Ich weiß es schon gar nicht mehr. Plötzlich fühlt es sich so an, als würde ich gleich heulen. Weil ich daran denken muss, dass ich vielleicht nie wieder nach Hause komme. Dass ich mein ganzes Leben bei diesem Mann bleiben muss. Was ist, wenn ich achtzehn bin? Wenn ich achtzehn Jahre alt bin, denke ich, kann ich vielleicht abhauen, weil ich dann stark genug bin. Wenn ich achtzehn bin, gehe ich zu meinen Eltern zurück. Aber wohnen sie dann noch zuhause? Was passiert, wenn sie in der Zwischenzeit weggezogen sind? Kann ich herausfinden, wo sie wohnen?
    Adam G. fuchtelt mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. »He«, sagt er barsch. »Träumst du? Ich habe dich gefragt, ob deine Oma noch lebt? Und dein Opa.«
    Ich brauche eine Weile, um zu begreifen, was er jetzt schon wieder von mir will. Meine Oma stammt aus Metz, das ist in Elsass-Lothringen, sie sprach französisch. Mein Opa kam aus Siebenbürgen in Rumänien, ihn habe ich nie kennengelernt. Die Eltern meines Papas lebten in Dresden. Von dort flüchtete Papa 1957 in den Westen. Über Köln kam er nach Wiesbaden, wo meine Mama im Restaurant am Ostbahnhof kellnerte. Sie war damals mit einem Italiener verheiratet, hatte mit ihm ein paar Jahre in Neapel gelebt, weshalb meine Stiefgeschwister Italienisch sprechen können. Ich kann das nicht, Adam G. Hast du gehört?
    Ich.
    Kann.
    Kein.
    Italienisch.
    Aber wieder kriege ich kein Wort raus von dem, was ich eigentlich sagen will. Stattdessen sage ich etwas ganz anderes, und das habe ich mir nicht überlegt. Das kommt mir einfach in den Sinn. Vielleicht, weil Adam G. plötzlich wieder anfängt, vor sich hin zu schimpfen und mit den Fäusten in die Luft zu schlagen. Er macht mir viel Angst, wenn er das tut. Anstatt in die Luft kann er auch ganz schnell mich schlagen. Ich will nicht mehr von ihm geschlagen werden. Und so schießt mir plötzlich ein Satz durch den Kopf, und bevor ich es mir anders überlegen kann, ist er schon draußen.
    Ich sage: »Ich glaube, du hast viel Kummer und viele Sorgen.«
    Die Fäuste von Adam G. bleiben in der Luft stecken, als sei diese plötzlich harter Beton. Ohne mich anzusehen, fragt er: »Wieso? Merkst du das?«
    »Ja«, sage ich. »Weil du immer das machst.«
    Ich meine die Fäuste, das Brabbeln, das Schimpfen.
    Bevor ich mich versehen kann, wendet sich Adam G. ab und fängt an zu weinen.

Wieder bin ich am Ort des Geschehens. Ich will nicht sagen, dass es langsam zur Gewohnheit wird, aber heute bin ich schon wesentlich entspannter als beim ersten Mal. Als ich mich nach einem Wrackteil des Wohnwagens bücke, bemerke ich, dass ich wieder meine schwarzen Handschuhe trage. Die kalte Jahreszeit ist noch nicht vorüber, und doch ist in diesen paar Monaten mehr geschehen als in einer langen Zeit davor.
    »Wir sehen hier die alten Überreste dieses Waggons«, sage ich, während der Kameramann mich filmt. Irgendwie komme ich mir vor wie ein Fremdenführer, und der Fremde, den ich herumführe, bin ich selbst. Und dann sage ich den seltsamen Satz: »Ich weiß, dass hier mal was war. Ich weiß, dass ich hier was gelassen habe.«
    Die Regisseurin hakt nach: »Was denn?«
    »Viel Schmerz«, antworte ich. »Viel Leid. Viel Traurigkeit. Viele Tränen.« Erst hinterher kommt mir in den Sinn, dass es weit mehr ist. An diesem Ort habe ich meine Kindheit zurückgelassen. Davor war ich ein neunjähriges Kind. Danach war ich ein neunjähriger Erwachsener.
    Ich arbeite mich durch das Gestrüpp weiter vor. Viel zu drehen gibt es nicht. Irgendwann packt der Kameramann zusammen. Die Regisseurin ist erstaunt, dass kein Nachbar etwas bemerkt haben will. So abgeschieden von der Welt ist dieser Ort gar nicht, auch wenn mir das immer so vorkam. Ganz in der Nähe gibt es eine Baumschule, deren damalige Besitzerin später aussagt, sie hätte wegen der nahen Schnellstraße mein Schreien nicht gehört. Ob sie eines der Flugblätter gesehen hat? Die wurden jedenfalls überall verteilt. Darauf stand: »Vermisst«, und dann war noch zu lesen: »Die Polizei kann ein Verbrechen nicht mehr ausschließen.« Es gab Tausende Flugblätter, aber nur zehn Anrufer

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