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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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reagierten darauf. Die Fahndungsexperten waren sehr enttäuscht. Auch dass sich kein einziger Fahrgast aus dem Bus der Linie 25 meldete, wunderte sie. Das alles erzählt mir die Regisseurin, und ihre Gedanken setzen etwas bei mir in Bewegung. Eine Frage, um die ich die ganze Zeit herumschleiche wie ein Hund um den Knochen. Endlich platze ich damit heraus.
    »Was haben eigentlich meine Eltern gemacht?«, will ich wissen.
    Um das richtig zu verstehen: Natürlich haben wir zuhause auch mal über die »schreckliche Zeit« gesprochen. Die Betonung liegt auf »mal«, und es lag im Wesentlichen an mir, wenn das Thema selten auf den Tisch kam. Denn mir wurde das alles gleich zu viel. Während meiner Gefangenschaft hatte ich immer wieder schreckliche Gedanken: Muss ich alles erzählen, wenn ich wieder zuhause bin? Wollen mich meine Eltern noch, wenn sie erfahren, was der Mann mit mir gemacht hat? Das hat meinen Mund verschlossen, als ich zurück war. So kommt es, dass mir jetzt eine fremde Frau sagen muss, wie meine Eltern vor Sorgen fast in den Wahnsinn getrieben wurden. Sie ist gut informiert. Kein Wunder. Sie hat schon Interviews mit meinen Eltern durchgeführt, hat ihnen mehr Fragen gestellt, als ich es jemals tat.
    »Als die Fahnder nach einiger Zeit noch immer keinen einzigen konkreten Hinweis hatten, fingen sie an, Ihren Vater zu verdächtigen«, erzählt sie. »Ihre Mutter sprach davon, wie die Polizei das ganze Hause auseinandergenommen hat. Bis hinab in den Keller haben sie jeden Winkel durchsucht. Sie glaubten, Ihr Vater hätte Sie versteckt. Das ist ihm nicht gut bekommen. Eine ganze Zeit lang war er arbeitsunfähig.«
    Mir schießen Tränen in die Augen, als ich davon höre. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern jemals darüber gesprochen haben. Vielleicht haben sie, und ich habe nicht zugehört? Mein Vater hatte schließlich später genug Sorgen mit mir. Er stand mir immer zur Seite, selbst dann, als die Polizei nach Hause kam und das Hasch fand. Da war mein Leben schon so aus dem Gleis gesprungen, dass viele Leute sich fragten, wie das alles noch enden wird.
    Zum Glück hat der Kameramann seine Gerätschaften schon verpackt. Ich möchte nicht, dass man mich im Fernsehen heulen sieht.
    »Was hat sie sonst noch gesagt, meine Mama?«, will ich wissen und denke, eigentlich sollte ich sie das doch selbst fragen. Aber vielleicht ist es besser so. Die Regisseurin erzählt, wie meine Mama sich den Kopf zermarterte und sich immer und immer wieder fragte, wo ihr Sascha sein könnte. Was ist nur mit ihm passiert?
    »Sie konnte nicht mehr schlafen. Sie hat bis tief in die Nacht Fernsehen geschaut, aber gar nicht gesehen, was auf der Mattscheibe passierte. Sie hat nur dagesessen und Rotz und Wasser geheult bis morgens früh«, sagt die Regisseurin. In dieser Zeit gaben die Fahndungsexperten alle Hoffnungen auf. Gerade war zum dritten Mal das gesamte Gelände rund um den Wickerbach, die Gartenhauskolonie und den Golfplatz durchsucht worden. Diese Gegend grenzt unmittelbar an mein Elternhaus, also konnten weder die Polizei noch die Feuerwehr noch die Soldaten mich finden. Irgendwann tauchte das Gerücht auf, man habe meine Leiche in einem der Teiche gefunden. Daraufhin fährt die Polizei mit einem Lautsprecherwagen durch den Ort, um den Gerüchten zu widersprechen. Sie will, dass alle Besitzer der Gartenhäuschen sich in ihren Hütten umsehen, und das erweist sich als schwierig. Einige Leute werden nicht angetroffen. Andere lassen sich ewig Zeit. Immer wieder überfliegt ein Hubschrauber der Polizeiflugbereitschaft Egelsbach die Region. In den Zeitungen erscheinen neue Suchaufrufe, sogar in den amerikanischen Blättern: »Assistance sought in search for missing German boy, 9« titelte der Stars and Stripes am 18. Januar 1986.
    In mühseliger Kleinarbeit ermittelt die Sonderkommission die Fahrgäste der Linie 25 am Tag meiner Entführung. Sie veröffentlicht eine Skizze in den Tageszeitungen, weil es von acht Fahrgästen nur eine ungenaue Personenbeschreibung gibt. Da ist die Rede von einer älteren, kräftigen Frau. Einem jungen Mädchen. Noch eine ältere, kräftige Frau. Ein Mann mittleren Alters mit ungeordneter Bekleidung. Eine blonde Frau. Ein älterer Mann, vermutlich Ausländer mit Nappalederjacke. Ein Mann mit blondem Vollbart. Ein jüngerer Mann.
    Der Mann mittleren Alters mit der ungeordneten Bekleidung, den hätten sie finden müssen, meint die Regisseurin. Sie berichtet davon, wie meine Eltern zusammen

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