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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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mit meinem Onkel eine Belohnung von 20.000 DM aussetzen, in der damaligen Zeit sehr viel Geld. Sie schreiben einen offenen Brief an alle Tageszeitungen: »Bitte helfen Sie uns, unser Leid, unsere Ungewissheit zu beenden, und bringen Sie unseren Brief in die Zeitungen. Vielleicht liest ihn dann die Person, die am Freitag zuletzt mit unserem Sascha zusammen war und die uns dann sagt, was wirklich passiert ist.«
    »Die Ungewissheit hat Ihren Eltern am meisten zugesetzt«, erklärt die Regisseurin, während ich schon wieder mit den Tränen kämpfe. »Am Ende des Briefes formulierten sie an die Adresse des Unbekannten: ›Auch Sie werden sonst nie Ruhe finden.‹«
    Auch die Wiesbadener Staatsanwaltschaft verspricht 3.000 DM für alle Hinweise, die zur »Aufklärung eines möglichen Verbrechens führen«. Und noch einmal veröffentlicht die Polizei eine ganzseitige Informationsschrift mit einem detaillierten Luftfoto unseres Wohngebiets. Darunter steht: »Diesen Weg hätte Sascha Buzmann am Freitag, den 10. Januar, gegen 19:30 Uhr, nehmen müssen. Wer kann Hinweise geben?« Und weiter: »Wer ist gegen 19:30 Uhr am Freitag, 10. Januar 1986, in der Münchener Straße, Haltestelle Nürnberger Straße, aus dem Bus der Linie 25 gestiegen? Wer befand sich zu diesem Zeitpunkt zwischen der Haltestelle und der elterlichen Wohnung des Jungen auf der Straße? Wurde Sascha Buzmann von einer Person angesprochen, oder ist er mit jemand mitgegangen? Ist er evtl. in ein Fahrzeug eingestiegen?«
    »Ab diesem Zeitpunkt«, so die Regisseurin, »riefen bei Ihren Eltern alle möglichen Leute an. Die behaupteten, sie wissen was – und legten dann auf. Oder sie sagten: Bei Gelegenheit hören Sie wieder von uns.«
    Das machte die Not meiner Eltern noch größer. Nochmals wenden sie sich an die Zeitungen: »Sascha ist seit drei Wochen weg«, schreiben sie. »Wir wissen nicht, ob er noch lebt oder ob er tot ist. Diese Ungewissheit ist für uns noch schlimmer, als wenn er wirklich tot wäre. Wir hoffen natürlich noch immer, dass unser Kind noch lebt, aber wir wollen endlich Gewissheit.«
    Wieder meldet sich ein Mann. Er sagt, er sei ein »Pendler«, was immer er damit meint. Das Kind liegt tot in einer Schlickgrube bei Flörsheim, teilt er mit. Die Polizei rückt aus, schuftet eine Nacht lang im Schlamm – ohne Ergebnis.
    Dann wird meine Lehrerin von einer Zeitung interviewt. Sie schildert mich als still und zurückhaltend, aber keinesfalls ängstlich. Nein, eigentlich sei ich aufgeschlossen, aber eben der Kleinste und Schmächtigste in der Klasse.
    Sie sagt nicht, dass ich auf den ersten Blick wie ein Mädchen wirke, aber vielleicht denkt sie es. Sie weiß nichts davon, dass ein Mann mit ungeordneter Kleidung in der Linie 25 saß, der den kleinen Schmächtigen für ein Mädchen hielt.
    Irgendwann gibt der Pressesprecher der Wiesbadener Polizei dem Sender RTL ein Interview: »Ja«, sagt er. »Es besteht die Möglichkeit, dass Sascha Buzmann tot aufgefunden wird.« Noch schweigt er darüber, dass in vielen Fällen die vermissten Kinder nicht mehr aufgefunden werden. Weder tot noch lebendig. Da geht die Suche nach mir noch weiter, aber die Zeichen mehren sich, dass die Fahnder die Hoffnung aufgeben. »Es ist niederschmetternd. Kein Ergebnis«, schreibt eine Tageszeitung. »Es gibt nicht den geringsten Hinweis. Nur Spekulationen, Mutmaßungen, wilde Theorien.«
    Eine Zeit lang bleibt die Sonderkommission noch am Ball, doch es wird keine weitere Großfahndung mehr geben. Ein Polizist sagt zu meiner Mama, eigentlich kann man nach acht Tagen alle Hoffnungen begraben.
    »Da wollte sie sich aus dem Fenster stürzen«, erzählt die Regisseurin. »So verzweifelt war sie.«
    Und während die Erwachsenen verzweifeln, versuche ich ebenso verzweifelt erwachsen zu werden. Dafür wird Adam G. zum Kind.

Er heult.
Adam G. hockt da und heult und schluchzt unter Tränen, dass sein Vater ihn immer wieder geschlagen hat. Und gelogen hätte er auch.
    »Ich hasse Lügner«, schreit er mich an. »Ich hasse Lügen! Lüg mich ja nicht an, hörst du, sonst mach ich dich kaputt!«
    Ich zittere vor Angst und weiß nicht, was ich tun soll. Ich hatte ja keine Ahnung, was mein Satz »Ich glaube, du hast viel Kummer und viele Sorgen« auslösen würde. Ganz sicher hätte ich ihn sonst nicht gesagt. Ich kauere mich im hintersten Eck des Bettes zusammen. Ich will mich unsichtbar machen. Adam G. heult und schlägt in die Luft und schimpft und macht alles gleichzeitig. Er verliert

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