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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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völlig die Nerven, und wer kann dann wissen, was ihm als Nächstes einfällt? Ich kann nicht flüchten, und wenn er erst einmal beginnt, auf mich einzudreschen, so wie er in die Luft schlägt, bricht er mir alle Knochen. Dann werde ich sterben. Ist heute der Tag, an dem es passieren wird? Obwohl es wieder kalt geworden ist, seit der Ofen ausging, fange ich an zu schwitzen. Irgendwas dringt aus meiner Kehle, eine Folge kleiner Schluchzlaute, mehr lässt meine zugeschnürte Kehle nicht zu. In diesem Augenblick sehe ich das Tier, das selbst diese Laute in mir ersticken lässt.
    Etwas von der Größe des Kadavers, in den Thorsten getreten ist, drückt sich unter der schmalen Ritze der Tür durch. Ich muss sofort an den Kadaver denken, muss daran denken, dass es mich kriegen will. Das Tier ist braun, der Körper plump, der Schwanz lang und unbehaart. Es hebt seinen Kopf und starrt mich aus toten Augen an. Die Nase wittert. Dann bewegt es sich ganz schnell. Es läuft dorthin, wo Adam G. dem Hasen den Kopf abgehackt hat. Dort liegt etwas, das schnappt es sich und rennt zurück zur Tür. Für einen Augenblick verharrt es, und dann passiert, was ich nicht glauben kann, denn dafür ist das Tier eigentlich viel zu groß. Doch es zieht sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft weicht, und verschwindet unter dem Türspalt. In mir verkrampft sich alles. Das war eine Ratte, und ich fürchte mich vor Ratten. Nein, ich fürchte mich nicht nur, ich habe heillose Angst vor ihnen. Wo eine Ratte ist, höre ich Mama sagen, da sind viele, und ich merke, wie mich Ekel überkommt. Er zieht über meine Haut und hüllt mich ein wie eine Wolke. Plötzlich sehe ich überall Ratten. Ich blicke zu Adam G. hinüber, der noch immer vor sich hin schnieft und in die Luft boxt und murmelt, dass man das mit ihm nicht machen kann. Die Ratten tanzen dir auf der Nase herum, denke ich, und ich finde, das ist ein ganz und gar erwachsener Gedanke, auf den ich bei anderer Gelegenheit vielleicht stolz sein könnte, doch jetzt weckt er nur neue Angst in mir. Da, wo ich die Ratte sah, ist nichts mehr, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass sie echt war. Ich werde höllisch aufpassen müssen. Ich werde kein Auge mehr zumachen, weil ich gehört habe, dass Ratten Menschen im Schlaf annagen. Während man schläft, fressen sie einem einen Zeh ab oder einen Finger oder die Nase und übertragen dabei furchtbare Krankheiten. Nie wieder werde ich hier ein Auge zumachen, und: Warum räumt dieser schreckliche Mann nicht seinen Saustall auf?
    Auch das ist ein erwachsener Gedanke, und er stammt von meinem Papa. Ab und zu, wenn er in mein Zimmer kommt und ich meine Masters-of-the-Universe-Figuren aus dem Regal genommen habe, um mit ihnen zu spielen, aber vergaß, sie wieder einzuräumen, sagt er: Hier sieht’s aus wie in einem Saustall. Räum doch mal dein Zimmer auf! Warum hat das der Papa von Adam G. ihm nie gesagt? Warum hat er ihm nicht beigebracht, dass man seine Sachen nicht so herumliegen lässt? Und dass man den Abfall wegräumt? Dann würde es hier anders aussehen. Dann gäbe es auch keine Ratten. Dann hätte er ihn sicher nicht geschlagen, sondern getan, was mein Papa tut, wenn ich mein Zimmer aufräume: Er lobt mich, und ich darf, wenn er Fernsehen schaut, eine Weile auf seinem Schoß sitzen. Dann fragt er mich, ob wir am Sonntag Fußball spielen wollen. Das fragt er, obwohl er meine Antwort schon kennt, aber es gefällt ihm, mich danach zu fragen. Es gefällt ihm, wenn ich »oh ja, oh ja, oh ja« rufe und mich nicht mehr einkriegen kann. Danach kann ich es kaum erwarten, bis Sonntag ist, und ich bibbere die ganze Woche vor Aufregung, damit es an diesem Tag nicht regnet. Ich frage mich, ob der Papa von Adam G. nie mit ihm Fußball gespielt hat.
    Das frage ich nur mich. Ich frage nicht ihn selbst. Ich habe Angst davor, was passieren kann, sollte ihn diese Frage aufregen. Er hat nicht einmal die Ratte gesehen vor lauter in die Luft boxen und schimpfen und heulen. Er hat nicht mitbekommen, wie sehr ich mich erschrocken habe. Er sieht nicht, wie ich meine Beine anziehe und versuche, mit der schmuddeligen Decke einen Schutzwall zu bauen. Ich weiß nicht, ob die Decke Ratten abhalten kann, aber ich will nichts unversucht lassen. Meine Blicke wandern über den Fußboden, wie mit dem Strahl einer Taschenlampe taste ich alles ab. Und entdecke nichts. Habe ich mich doch getäuscht? Vielleicht haben mir meine Augen einen Streich gespielt? Nein. Die Ratte sah echt aus.

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