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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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Wie der Kadaver, nur lebendig. Sehr lebendig. Und schnell. So schnell, dass sie mich kriegen kann, wann immer sie will. Zentimeter für Zentimeter tastet mein Blick den Fußboden ab, verweilt beim Ofen, unterm Tisch, wo besonders viel Abfall herumliegt, beim Eimer, auf dem noch immer der Topf steht, wandert zur Tür, zum Türspalt.
    Ein Kopf erscheint dort. Dann der Körper, wieder auf unerklärliche Weise zusammengepresst. Er schwillt an, wird dick und groß, und die Ratte hat sich unterm Spalt durchgedrückt. Ich bin wie hypnotisiert. Sie wittert. Dreht den Kopf zu mir und setzt sich in Bewegung, genau auf das Bett zu. Ich fange an zu schreien.

Auf meinem Anrufbeantworter sind plötzlich sehr viele Anrufe. Es sind keine Hoteliers oder Restaurantbesitzer, die mir Arbeit anbieten. Der Artikel im Nachrichtenmagazin hat auf jeden Fall schon mal eines bewirkt: Die Perversen kriechen aus den Löchern. Wie meine Eltern damals bekomme ich Anrufe von Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, andere Menschen zu quälen. Ich kann mir gut vorstellen, wie einige der Anrufer mit offener Hose am Telefon sitzen, während sie ihre Bosheiten absondern. Ich habe diese Sorte Mensch schließlich kennengelernt. Ein Anrufer mit heiserer Stimme erzählt davon, dass er Adam G. gut kenne. Er sei im selben Gefängnis gewesen, als ob ihn das vertrauenswürdig macht. Jetzt müsste er mir ganz dringend etwas von Adam G. ausrichten. Dazu soll ich in den Wiesbadener Stadtpark kommen, er nennt Ort und Uhrzeit. Ich soll alleine erscheinen, das sei sehr wichtig. Gerade will ich alle Anrufe löschen, weil ich nicht den ganzen Mist anhören möchte, da piepst es, und eine weibliche Stimme ist dran. Etwas an ihr sorgt dafür, dass ich den Finger vom Löschknopf nehme. Vielleicht ist es ihr schweizerischer Dialekt, für den ich schon immer eine Schwäche hatte. Vielleicht spüre ich, dass diese Frau etwas zu sagen hat, das nichts mit den perversen Gelüsten der anderen Anrufer zu tun hat.
    Es ist nicht viel, was sie sagt, aber es lässt mich erschauern. Hier spricht eine, die weiß, wie es um mich steht. Eine, die meine Erfahrungen nicht aus Büchern kennt oder weil sie in der Therapie tätig ist. Hier spricht eine Frau, die das alles weiß, weil ihr Ähnliches widerfahren ist. Sie nennt mir eine Handynummer. Es stehe mir frei, ob ich sie anrufen möchte, sagt sie. Doch würde sie sich über ein Gespräch freuen.
    Ich bleibe vor dem Anrufbeantworter sitzen. Ich stelle ihn nicht ab, doch höre ich den restlichen Anrufern kaum zu. Diese haben mehr oder weniger dasselbe zu sagen wie der Mann mit der heiseren Stimme. Das zählt nicht mehr. Was zählt, ist die Tatsache, dass es da draußen einen Menschen gibt, den mein Schicksal interessiert, weil er es aus eigener Erfahrung kennt. »Aus eigener Erfahrung« ist der Schlüsselsatz. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der unter Depressionen litt. Einmal sagte er: »Leute, die das nicht haben, können nicht einmal ahnen, wie es mir geht.« Ich habe keine Depressionen, zumindest nicht auf die Art, wie er sie schilderte, mit plötzlichen Abstürzen und totaler Antriebslosigkeit und dem Wunsch, sich vor den nächsten Zug zu schmeißen. Bei Gott, ich kann glücklich sein, dass ich keine Depressionen habe; bei meiner Vergangenheit ist das vielleicht ein Wunder. Doch die Aussicht, mit jemand zusammenzutreffen, der weiß, um was es geht , ohne dass ich viele Worte machen muss, kommt mir auf einmal vor wie ein Jackpot in der Lotterie. Ich sollte das tun, denke ich mir, ich sollte die Frau zurückrufen.
    Aber ich rufe nicht an. Ich bin vorsichtig geworden. Oh ja, ich bin so etwas von vorsichtig geworden. Ich kann vorsichtiger sein als der Dieb in der Nacht. Ich werde mindestens einmal darüber schlafen, und sollte ich nicht schlafen können, und die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß angesichts meiner plötzlichen Erregung, werde ich auch übermorgen nicht anrufen. Dann vielleicht überübermorgen oder nächste Woche oder noch später. Ich habe ein Vierteljahrhundert gebraucht, um das Verlies zu öffnen, jetzt habe ich keine Eile. Vielleicht, sage ich mir, und der Gedanke hat etwas Tröstliches, bewirkte der Artikel im Nachrichtenmagazin mehr als nur der Anruf der Perversen. Etwas, das ich mir nicht wünschen konnte, weil ich keine Ahnung hatte, dass es möglich sein kann: einen Austausch auf Augenhöhe.

Ich schreie, so laut ich kann,
und Adam G. fährt auf.
    »Die Ratte, die Ratte, die Ratte!«, schreie

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