Schockgefroren
studiert oder in Büchern gelesen, aber trotzdem kann ihr niemand ein X für ein U vormachen. Michaela kennt die dunklen Orte meiner Seele. Sie ist ein Opfer wie ich selbst.
Ich kann heute kaum mehr im Detail niederschreiben, was sie alles an diesem Tag zu mir sagte. Ich erinnere mich daran, dass sie Facebook erwähnte. Sie hat den Artikel über mich im Nachrichtenmagazin gelesen, mich auf Facebook gesucht und gefunden, mein Foto mit dem im Magazin verglichen und gesagt: Bingo, das ist er. Dann schaute sie sich ein wenig auf Google um; aber dort bin ich ein unbeschriebenes Blatt. Immerhin findet sie meine Telefonnummer. Sie ruft an. Und erwartet nicht, dass ich zurückrufe.
Aber das tue ich. In einer der dunkelsten Stunden rede ich mit Michaela. Sofort fühle ich, dass eine Seelenverwandte mit mir spricht. Sie erzählt, dass ihr mein Gesicht gefällt, weil es so offen sei. Dann lacht sie und sagt, damit wir uns richtig verstehen, sie sei nicht auf ein Date aus, aber würde sich trotzdem freuen, wenn wir uns mal treffen . Michaela ist jemand, der mit Worten umgehen kann, und das gefällt mir. Worte sind wichtig. Mit Worten lassen sich Gefühle erzeugen und Strategien umsetzen. Mit Worten habe ich als Neunjähriger Adam G. beeinflusst, damit ich seine Gewalttaten überleben konnte.
»Mir geht’s überhaupt nicht gut«, sage ich. »Nein, Blödsinn, mir geht’s beschissen.«
Kann sie sich gut vorstellen, antwortet Michaela. Kein Wunder, nach dem Artikel. Sie meint, ich sei ganz schön mutig, bei so einer Sache mitzumachen. So habe ich die Dinge noch nicht gesehen.
»Wenn es helfen würde«, antworte ich. Damit meine ich gleich zwei Dinge: dass es mir helfen wird. Und der Sache. Bisher aber melden sich nur die Perversen.
Michaela lacht. Sie hat ein schönes, offenes Lachen. »Ist doch klar«, meint sie. »Normale Leute greifen nicht nach dem Telefon und rufen dich an. Normale Leute schnappen sich auch keine kleinen Kinder. Das tun die Psychos, die Perversen, die Sonderlinge, die Einzelgänger, Eigenbrötler und Außenseiter. Das tun Leute wie Adam G. und Werner Ferrari. Solche Leute rufen auch an.«
»Wer ist Werner Ferrari?«, frage ich, und Michaela sagt: »Einer, der in der Hölle schmoren soll.«
Ich habe schon häufig darüber nachgedacht, weshalb ich keine Kinder habe. Schließlich gab es ein paar Freundinnen in meinem Leben, die nicht abgeneigt waren, mit mir eine Familie zu gründen. Aber etwas in mir hat sich dem verweigert, und irgendwann schob ich es auf meinen Beruf: Wer so viel wie ich unterwegs ist, kann keine Kinder aufziehen. Wie soll das gehen? Als mich die Regisseurin darauf ansprach und ich vor laufender Kamera sagte, ich will eine Familie gründen, verspürte ich einen Stich im Herzen. Jetzt glaube ich, dass die schwarze Wolke auch deshalb um mich ist, weil mir die Frage keine Ruhe lässt. Weil ich vor diesem Schritt zu viel Angst habe. Nicht vor dem Kindererziehen selbst; ich glaube, ich könnte ein guter Papa sein. Nein, weil ich weiß, was passieren kann. Weil ich weiß, wer da draußen sein Unwesen treibt. Als Eltern darf man sich diesem Gedanken nicht hingeben, da man sonst den Mut verliert. Wer aber eintaucht in die Welt der Kinderpornofetischisten und Kinderschänder, der Kindsentführer und Kindermörder, der dreht schlicht und einfach durch. Das kann nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein – da draußen schwimmen Haie und unsere Kleinen im selben Wasser. Aber was können wir tun? Es gibt nur ein Meer, in dem sich alle tummeln. Auch Leute wie Adam G. und Werner Ferrari.
»Ferrari«, sagt Michaela, »war ein Serienmörder. Er verging sich an zahlreichen Kindern auf abscheulichste und brutalste Art. Danach brachte er sie um.« Er kommt nicht daher wie Adam G., ungewaschen und unrasiert. Nein, er kleidet sich wie ein Priester. Am liebsten treibt er sich in der Nähe von Kinderspielplätzen herum. Dort beobachtet er Mädchen und Jungen, und wenn keiner hinsieht, schlägt er zu. Das erste Mal im Jahr 1971, da ist Michaela noch nicht mal geboren. Für den Tod des zehnjährigen Jungen wird er eingebuchtet, aber acht Jahre später wieder freigelassen. Von da an vergewaltigt und mordet er weiter. Eines Tages beobachtet er die elfjährige Michaela und eine Freundin, die unweit der Haustür ihrer Eltern spielen. Ferrari gehört nicht zu der Sorte von Kinderschändern, die spontan ein Kind entführen. Nein, er erfasst die Gewohnheiten und Routinen der Kinder und weiß am Ende eine Menge
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