Schockgefroren
Spielregeln. Es gibt eine Bande älterer Jungs aus Wallau, die immer wieder die Gegend unsicher machen, bei denen ist das anders: Die hören auch dann nicht auf, wenn einer weint; im Gegenteil, das gefällt ihnen, und sie legen erst richtig los. Vielleicht tut man das, wenn man älter wird. Ich weiß nicht, wie Papa und seine Freunde es halten, aber bei Adam G. ist die Sache klar: Je mehr ich weine, desto wütender wird er. Dann fängt auch er so richtig an. Doch wenn er mich in die Kiste pfercht, kann ich nur weinen. Wäre er tatsächlich mein Freund, würde er es nicht tun. Und alles andere auch nicht.
Wieder beschwert er die Kiste. Was mache ich bloß, wenn sich eine Ratte hineinzwängt? Wenn sie unter Türspalten passen, schaffen sie es auch in die Kiste, da bin ich mir sicher. Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur daran denke. Aber ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Ich stelle mir vor, wie eine Ratte in die Kiste kommt und anfängt, meine Nase zu fressen, und ich kann nichts dagegen unternehmen, weil ich mich kaum bewegen kann. Ich versuche mich zu bewegen, und da entdecke ich einen kleinen Riss in der Kiste. Ich will meinen Körper so drehen, dass mein Mund in seine Nähe kommt. So kann ich besser atmen, denn es ist furchtbar stickig. Vielleicht kann ich auch was sehen? Wenn es mir gelingt, ein kleines Stück näher zu kommen, noch ein Stück und noch ein Stück … nein. Ich stecke fest, es geht nicht, aber wenigstens gelingt es mir, die Arme anzuwinkeln. Ganz fest stemme ich sie gegen den Deckel, es wäre doch gelacht, wenn ich ihn nicht aufbekomme. Ich feure mich selbst an, ich sage mir, dass ich stark bin, stark wie Tarzan, dass ich über enorme Kräfte verfüge, und wenn ich diese einsetze, sind Steine kein Problem mehr. Ich setze meinen ganzen Willen ein, drücke so fest ich kann, und obwohl ich in diesem Moment wirklich Tarzan bin, bewegt sich der Deckel keinen Deut. Ich gebe nicht auf. Ich kann nur kleine Bewegungen machen, aber ich nutze jeden Millimeter, der mir zur Verfügung steht. Ich stoße und klopfe und hämmere, und dabei verliere ich die Nerven. Ganz plötzlich fange ich an zu schreien, zu toben, und es ist mir egal, was passiert, soll er es doch mitbekommen! Es muss auch noch jemand anders geben, der mich hört, der dann nicht weiterläuft, der stehen bleibt, der hilft … Es kann doch nicht sein, dass ich ganz allein bin, ganz allein, so allein …
Mein Toben wird zum Heulen, mein Heulen zum Schluchzen, mein Schluchzen erstickt. Erschöpft versuche ich, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Das Rumgezappel und Gebrüll kostet viel Luft, ich muss aufpassen, dass ich nicht ersticke. Nur ganz langsam kann ich mich beruhigen. Ich merke, wie es hilft, mir vorzustellen, zuhause in meinem Bett zu liegen, eingekuschelt in meine Decke. Ich habe sie mir über den Kopf gezogen, und die kleine Taschenlampe brennt. Mein Micky-Maus-Heft ist mit unter der Decke, und ich lese heimlich darin, das darf natürlich niemand wissen, Mama nicht und Papa nicht, aber gerade weil ich das nicht darf, ist es so unglaublich aufregend. Micky Maus ist mutig und weiß immer eine Lösung, und ich lese die ganze Geschichte, bis ich merke, wie die Taschenlampe schwächer wird und meine Augen müde. Nun kann ich schlafen, ich lösche die Lampe und schließe die Augen, und ich schlafe ein, zuhause unter meiner Decke, wo die Welt in Ordnung ist, weil Mama und Papa nur ein Zimmer weit entfernt sind und auf mich aufpassen. Ich habe ganz vergessen, dass ich in einer Kiste eingesperrt bin und keine Ahnung habe, ob Adam G. jemals wieder auftaucht und mich herausholt oder ob es die Ratten sind, die mich zuerst kriegen. Ich schlafe in der Kiste, und Micky Maus turnt durch meine Träume.
Es ist gar nicht so spät, aber Michaela hat eine Party gefeiert. Michaela war aus und hat es krachen lassen. Michaela lässt gerne mal fünfe grade sein, und das hat sie sich auch verdient, denn Michaela hat eine Menge zu feiern. Zum einen ihren Erfolg als selbstständige Versicherungsmaklerin. Zum anderen ihre süße kleine Tochter. Aber vor allem ihr zweites Leben. Ein zweites Leben, eine Wiedergeburt, das können nur wenige Menschen feiern. Michaela kann das tun. Ich könnte es auch, wenn ich es könnte. Doch mir ist nicht nach Feiern zumute. Um mich ist die schwarze Wolke, und sie bereitet mir Probleme, Michaelas Worten zu folgen. Das macht aber nichts, denn sie weiß Bescheid. Zwar ist sie keine Psychiaterin, hat das alles nicht
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