Schockgefroren
draußen ist und anderes zu tun hat. Sie streicht mir über die Haare. Sie zeigt mir ein Bilderbuch, in dem richtige Bilder sind und nicht nur Kleckse. Dann kommt der Psychiater wieder rein und hat ein Dutzend Karten dabei. Wieder sind nur Farbkleckse drauf.
»Was siehst du?«, fragt er.
Ich sage: »Da ist ein Hund. Ein toter Hund. Er ist blutüberströmt.«
Ich sage nicht, es ist eine Ratte. Ich sehe nämlich keine Ratte. Ich sage auch nicht, es ist ein Kadaver. Ich sehe auch keinen Kadaver. Vor allem sehe ich keinen toten Hund. Aber ich habe bei Adam G. gelernt, dass Erwachsene erst zufrieden sind, wenn man ihnen Antworten gibt. Egal, welche Antworten. Also erfinde ich etwas, im Erfinden bin ich gut, ich hatte viel Übung in letzter Zeit. Der Psychiater macht sich Notizen. Ich muss noch ein paar Mal in die Praxis kommen und noch mehr Antworten erfinden. Toter Hund. Blutüberströmt. Überfahrener Vogel. Plattgewalzt. Danach schreibt der Psychiater einen Bericht. Darin steht, dass er »meine Zukunft negativ bewertet«. Das erfahre ich erst später, als ich sechzehn bin und meinen Eltern immer mehr Kummer bereite. Da kommt zur Sprache, dass der Psychiater mir »eine negative Zukunft« prophezeit hat, und er scheint recht zu behalten. Psychiater behalten immer recht, egal, was sie erzählen. Auch wenn sie völlig falsch liegen, behalten sie recht. Auch wenn sie bei Adam G. keine Gefahr konstatieren und dieser kurz nach seiner Entlassung wieder einen Jungen verschleppt und vergewaltigt: Selbst dann haben sie noch recht. Weil das so ist, kann ich mich keinem Psychiater öffnen. Sie sind gebildet und studiert und kennen alle Fälle, und genau das ist der Grund, weshalb ich mich ihnen nicht anvertrauen kann. Da geht es mir wie meinem Kollegen: Leute, die das nicht erlebt haben, können nicht einmal ahnen, wie es mir geht. Ein Martyrium lässt sich nicht erlernen. Einfühlungsvermögen auch nicht. Das hat man oder hat man nicht. Der Psychiater hatte es nicht. Vielleicht wäre ich kooperativer gewesen, wenn mich seine Assistentin gefragt hätte. Vielleicht wäre dann in meiner Beurteilung gestanden: »Der Junge hat gute Aussichten auf eine positive Zukunft.«
Aber so war es nicht. Da stand, ich werde eine negative Zukunft haben, und das wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Daran muss ich denken, als ich Hotels und Restaurants abklappere. Siehst du, nicht mal das will noch klappen. Du bist ein Verlierer, ohne jedes Selbstvertrauen, einer, mit dem man alles machen kann, du bist der, der den Arsch hinhält. Manchmal zieht über mir eine große schwarze Wolke auf wie ein drohendes Gewitter. Mein Kollege mit den Depressionen hat von dieser Wolke gesprochen, aber anders als bei ihm hüllt sie mich nicht restlos ein. Ich kann gegen die Wolke kämpfen. Immer wenn ich in Selbstmitleid zu ertrinken drohe, fange ich an zu paddeln wie damals, als der Hai mich fressen wollte. Ich paddle wie wild, weil ich weiß, da vorne wartet das rettende Ufer. Ich muss nur schneller sein als der Hai. Ich muss schneller sein als die Wolke. Wenn ich das Ufer erreiche, wenn ich Boden unter den Füßen kriege, wird alles gut. Und, bei Gott, ich kann vielleicht paddeln! Das habe ich mehr als einmal bewiesen in meinem Leben.
Gerade als ich mir die x-te Absage einhandle und zum wiederholten Mal höre: »Das ist gar keine gute Zeit, Herr Buzmann, rufen Sie in ein paar Wochen wieder an«, zieht die Wolke auf und ist so schwarz, dass selbst Energie in ihr verschwindet. Da fange ich an zu paddeln. Ich paddle wie verrückt, und mein Auge findet den Block, auf den ich die Nummer gekritzelt habe. Meine Finger tanzen von selbst über die Tastatur des Telefons. Mein Ohr lauscht tief in die Leitung.
Tut, tuut.
Tut, tuut.
Auf einmal meldet sich eine verschlafene Stimme, deren schweizerischer Akzent wie Musik klingt.
»Michaela hier«, sagt die Stimme. »Sag mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
Zwar sagt der Mann, den ich Adi nennen muss,
jetzt ständig, ich bin sein Freund, aber das hindert ihn nicht daran, mich in die Kiste zu pferchen. Nein, er weiß nichts über Freundschaft, er weiß rein gar nichts darüber! Wenn in unserer Bande jemand zu weinen anfängt, weil wir es mit dem Holzschwert, dem Pfeil und Bogen oder der Steinschleuder zu doll getrieben haben, ist das für uns anderen das Signal, die Waffen ruhen zu lassen. Kann sein, man wird ein wenig gehänselt, kann sein, es heißt, man sei eine Heulsuse – aber wir halten uns an die
Weitere Kostenlose Bücher