Schockgefroren
über die beiden Mädchen. Eigentlich sollte in diesem Ort, wo das alles geschieht, ein Mann im schwarzen Gehrock, der am Spielplatz rumlungert, auffallen. Aber keiner schaut hin, so hat er leichtes Spiel. Er bringt die Mädchen in seine Gewalt. Er droht, wenn sie schreien, sind sie tot; das Entweder-oder-Prinzip funktioniert auch hier. Er nimmt Handlungen an ihnen vor, die spotten jeder Beschreibung. Irgendwie verliert er die Übersicht. Panisch, kopflos, völlig von Sinnen kann Michaela fliehen. Sie irrt umher, bis jemand sie aufgabelt. Da ist es bereits zu spät. Ferrari hat ihre Freundin schon ermordet.
Das alles erzählt mir Michaela mit ruhiger Stimme. Wir reden lange miteinander. Sie war in stationärer Behandlung, so nennt sie ihre Therapie. Ich sage ihr, was ich davon halte. »Du hast halt noch nicht die richtige für dich gefunden«, antwortet sie. »Wenn es für dich was Gutes gäbe, würdest du es probieren?«
»Natürlich«, sage ich, ohne nachzudenken. Wer möchte sich nicht helfen lassen? »Aber ich lass mich auch nicht verarschen«, füge ich rasch hinzu. Michaela lacht. Sie lacht gerne. Dann fragt sie, ob sie mich besuchen soll. Sie könne mit dem Zug kommen. Ob mir das recht ist?
»Natürlich«, wiederhole ich, wieder ohne lange nachzudenken. Wer einen Seelenverwandten am Telefon hat, muss nicht nachdenken.
Es fällt uns nicht leicht, einen Termin zu finden. Eigentlich will ich in Kürze weg sein, möglichst weit sogar. Und Michaela hat auch eine Menge um die Ohren. Ihre Arbeit ist ihr wichtig, ihre neunjährige Tochter noch wichtiger. Die will versorgt sein. Vor allem gut behütet.
Dann finden wir doch ein paar Tage im April. Auf einmal weiß ich, selbst wenn in den nächsten fünf Minuten der Personalchef eines Fünf-Sterne-Hotels persönlich anruft, um mich zu engagieren, werde ich »Nein« sagen. Weil ich im April nirgendwo anders sein möchte als hier. Weil Michaela kommt und ich mich schon jetzt darauf freue. Es wird mein »Blind Date mit einer Unbekannten« sein, die mir gar nicht unbekannt ist. Weil uns ein gemeinsames Schicksal verbindet.
Erst als sich die Kiste öffnet, schrecke ich auf.
Adam G. starrt auf mich herab, und mein erster Gedanke ist: Wo ist der Hase? Warum hat er keinen toten Hasen in der Hand? Ich verbinde sein Weggehen damit, dass er etwas zum Essen mitbringt. Es kommt mir nicht in den Sinn, es könnte andere Gründe dafür geben. Er zieht mich wortlos heraus, er hat schlechte Laune. Vielleicht, weil er keinen Hasen gefunden hat? Wo hat er die eigentlich her? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie auf dem Feld fängt, und noch weniger kann ich mir vorstellen, wie er in einen Laden geht und Hase verlangt. Ich glaube nicht, dass er dafür Geld hat, wenigstens habe ich ihn nie mit einem Geldbeutel gesehen. Er klaut den Hasen irgendwo, vermute ich, und falls er heute darauf aus war, hatte er keinen Erfolg. Möglicherweise rührt daher seine miese Stimmung. Vielleicht gibt es auch andere Gründe. Seine Launen wechseln ständig, sie ändern sich von einer Sekunde auf die andere. Davor fürchte ich mich, es verunsichert mich sehr. Aber ich weiß, wie ich ihn besänftigen kann. Indem ich »Guten Morgen« sage. Indem ich ihn »Adi« nenne. Jetzt, wo er glaubt, ich sei sein Freund, muss ich allerdings gut aufpassen. Ich muss zwar nett sein, aber kann nicht damit kommen, was in unserer Bande üblich ist: Blödian und Dummbatz und Schleimi sind in unseren Augen keine Schimpfworte. Damit drücken wir aus, wie gern wir uns haben, ohne dass es peinlich wird. Doch ich bin sicher, Adi will das nicht hören; er möchte nicht, dass ich ihn einen Stinkstiefel nenne. Deshalb muss ich höllisch aufpassen: Ich muss mit ihm reden wie mit einem Freund, aber doch anders. Eher wie mit einem Jungen, der in die Nachbarschaft zieht. Den keiner kennt, der sich selbst fremd vorkommt, der aber mitspielen möchte. Einer, der nicht in unserer Bande ist, sondern das Spiel von außen betrachtet, und zwar bis wir ihn einladen: Komm, spiel mit. Das ist es, denke ich. So muss ich mit Adam G. sprechen. Wie mit einem fremden Jungen, der mitspielen will. Dafür muss ich ihn genau beobachten, eben so, wie wir diesen fremden Jungen unter die Lupe nehmen würden. Das ist ähnlich wie die Sache mit dem Wassertropfen, den wir in der Schule unterm Mikroskop untersuchten. Von außen war es nur ein Wassertropfen, doch unterm Mikroskop entdeckten wir eine Menge Leben. Winzige Wesen, mit dem normalen Auge nicht zu
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