Schockgefroren
dich nicht um mich kümmerst, bin ich auch nicht dein Freund.«
So ist das bei uns in der Bande. Ich bin nicht mehr dein Freund, du bist nicht mehr mein Freund, diese Worte fallen häufig. Dafür gibt es jede Menge Gründe: Ein Freund gibt sein Spielzeug nicht her. Lässt einen nicht auf dem Fahrrad fahren. Wählt beim Tipp-Topp andere in seine Mannschaft. Verrät ein Versteck, wirft das Schleckeis zu Boden, lässt einen in der Schule nicht abschreiben, versteckt den Ranzen, stopft Brennnesseln unters T-Shirt, läuft davon, wenn die Bande aus Wallau auftaucht. So schnell, wie man Freundschaften gewinnt, kann man sie auch verlieren. So schnell, wie man sie verliert, kann man sie zurückgewinnen. Zum Beispiel mit einer Runde auf dem neuen Bonanza-Rad. Wenn der Ellbogen über den Hausaufgaben verschwindet oder die Brennnesseln einem Dritten unters T-Shirt gestopft werden. Ich habe nicht den Eindruck, dass Adam G. von alldem die geringste Ahnung hat. Aber er hat damit angefangen. Wenn er mein Freund sein will, muss er sich um mich kümmern. Er muss mir zu essen und zu trinken geben. Er muss das kapieren.
Adam G. dreht sich weg. Was ist denn jetzt schon wieder, denke ich, da beginnt er, im Berg von Abfällen zu wühlen. Auf einmal zieht er eine Keksdose und eine Flasche Cola hervor. Er öffnet die Flasche, und zischendes Cola sprudelt raus.
»Da«, sagt er. Das muss er nicht zweimal sagen. Ich setze die Flasche an, und es stört mich nicht, als Cola aus meinem Mund blubbert. Was habe ich für einen Durst! Noch während ich trinke, öffnet Adam G. die Keksdose. Er steckt sich einen Keks in den Mund, dann stellt er die Dose aufs Bett.
»Lang zu«, sagt er. »Die machen wir leer.«
Die und die Colaflasche. Während ich esse und trinke, arbeitet es in meinem Kopf. Was war es, was ihn dazu brachte, mir was zu geben? Offenbar funktioniert bei ihm, was auch in unserer Bande funktioniert: die Drohung, du bist nicht mehr mein Freund.
Das ist es! Das hat ihn dazu bewogen, Cola und Kekse herzuzaubern. Adam G. will in meiner Bande sein. Wahrscheinlich war er noch nie in einer.
Was weiß ein Neunjähriger über die Macht der Worte? In meinem Zeugnis der dritten Klasse steht jedenfalls nicht, dass ich ein kleiner Schiller bin. Besser gesagt, ein Sammy Drechsel, denn das ist ein Autor, dessen Bücher ich lese. Elf Freunde müsst ihr sein ist lange Zeit mein Lieblingsbuch. Darin geht es um eine Jugendfußballmannschaft aus Berlin, die Meister werden will. Vor allem aber geht es um Freundschaft. Und um die Macht der Worte. Denn mit Worten kann man motivieren. Mit Worten ist es mir gelungen, den Entführer zu motivieren. Es gelang mir, ihn zur Verantwortung zu motivieren.
Darüber denke ich nach, während ich in der Küche stehe und koche. Ich koche gerne, weil ich gerne esse, aber auch, weil ich beim Gemüseschnippeln prima nachdenken kann. Die Gedanken kommen von ganz alleine, während mein Messer Tomaten viertelt, Zwiebeln würfelt, Paprika schneidet. Ich bin kein Chefkoch, aber ich kriege alles hin, was ich zubereiten möchte. Wer so viel Zeit in Sternehotels verbringt wie ich, guckt den Leuten mit den Kochmützen auch über die Schulter. Heute habe ich Lust auf einen Schmorbraten. Der ist nicht im Handumdrehen zu erledigen, ein Schmorbraten braucht Zeit. Ich werde also über vieles nachdenken können. Über mein altes Lieblingsbuch, über Freundschaft, über die Macht der Worte – und über Adam G., der lange nicht mehr in meinem Kopf vorkam und jetzt ständig.
In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Vielleicht ist es Michaela, überlege ich, sie wird hoffentlich unseren Termin nicht absagen? Aber es ist nicht Michaela. Eine Männerstimme meldet sich. Mein erster Impuls ist, wieder aufzulegen. Wird wahrscheinlich einer von denen sein, die mich im Stadtpark treffen wollen. Aber der Mann nennt schnell seinen Namen und fügt hinzu, dass er Regisseur sei und einen Film drehen möchte.
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst«, sage ich.
Was nur zeigt, wie wenig ich von der Welt der Filmemacher weiß. Der Anrufer versichert mir, dass es ihm sehr wohl ernst ist. Er redet rasch, vielleicht weil er spürt, dass ich jederzeit auflegen kann. Seine Filmproduktion stammt aus Wiesbaden, und er stehe in Verhandlungen mit einem öffentlich-rechtlichen Sender.
»Es gibt schon einen Film«, wende ich ein.
Der Regisseur lacht. Er denke an einen ausgewachsenen Film. 45 Minuten soll der werden, mindestens. Vielleicht auch länger. Er habe das
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