Schockgefroren
er. »Aber schön langsam, wenn ich bitten darf.«
Sie machen sich nicht einmal die Mühe, uns zu trennen. Für sie sind wir kleine Fische; die gehen ihnen jede Nacht ins Netz. Ulla haben sie gleich in der Tankstelle geschnappt, das habe ich gar nicht mitbekommen. Jetzt beschwöre ich sie, den Mund zu halten und nichts zu sagen. Sie zittert am ganzen Körper und nickt immerzu. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie versteht, was ich meine. Die Polizisten bringen uns in Koblenz auf die Wache. Die Beamten dort haben viel Erfahrung mit Leuten wie uns. Als Erstes nehmen sie Ulla in die Mangel. Nach fünf Minuten beichtet sie alles. Dann bin ich an der Reihe. Ich leugne nicht, aber unterschreibe auch kein Geständnis. Das ist den Polizisten wichtig, sie wollen unbedingt, dass ich meinen Johann unters Protokoll setze. Sie können mich mal. Die Nacht verbringen Ulla und ich in zwei verschiedenen Zellen. Am nächsten Morgen werden wir dem Haftrichter vorgeführt.
»Ich habe die Fahrt als Kurierdienst gemacht«, lüge ich. »Ich bin Schüler, komme aus normalen Familienverhältnissen.«
Der Haftrichter hat das alles schon eine Million Mal gehört. Er stellt seine Fragen routiniert. Er weiß, dass ich nicht die Wahrheit sage. Auf einmal darf ich gehen. Natürlich ist es damit nicht zu Ende. Es ist erst der Anfang.
Die Welt ist noch immer grau und in Beton gegossen, als ich die Stufen zum Gericht erklimme. Viereinhalb Jahre sind vergangen, seit ich das erste Mal Drogen kaufte. Jetzt wird darüber entschieden, ob ich in den Knast wandere oder mit einem blauen Auge davonkomme. Die viereinhalb Jahre kommen mir vor, als hätte ich sie nicht selbst erlebt. Als hätte ich jemand anderes in einem Film beobachtet. Doch ich bin es, der vor dem Kadi steht. Es ist Realität, keine Fiktion.
Die Richterin liest mir die Leviten. Vielleicht denkt sie, dass dafür eigentlich meine Eltern zuständig sind. Weil die es offenbar nicht taten, muss sie jetzt einspringen. Sie kann ja nicht wissen, wie überaus geschickt ich mich immer wieder herausredete – selbst dann, als einmal die Polizei ins Haus kam. Damals verlor Papa die Nerven und brüllte mich an, aber Mama nahm mich in Schutz. Die Richterin kann auch nicht wissen, was es für mich bedeutet hat, König meines Lebens zu sein, wo ich bisher nur wusste, wie es ist, als Sklave zu dienen. Sie weiß nichts von meiner Vergangenheit, und ich verliere kein Sterbenswörtchen darüber. Auch als sie mich verknackt, komme ich nicht mit dem Spruch »Ich hätte gerne eine Wiederaufnahme des Verfahrens«, wie ich das vor ein paar Jahren bei der Musterungskommission getan habe. Nein, ich will keine Sonderbehandlung. Ich habe Scheiße gebaut und werde dafür gradestehen.
Die Richterin sieht mich streng an und sagt: »Ich verurteile Sie zu drei Jahren Gefängnis.« Sie macht eine Pause, um den Satz auf mich wirken zu lassen. Dann fügt sie hinzu: »Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.«
Sie verknackt mich noch zu jeder Menge Arbeitsstunden, »damit Sie über die ganze Sache nachdenken können«.
Das tue ich auch.
Ich denke schon lange darüber nach.
Mir wird klar, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie tief ich bereits im Sumpf stecke. Doch ich weiß auch, dass ich in der Lage bin, mich am eigenen Schopf herauszuziehen. Das ist eine Kunst, die ich im zarten Alter von neun Jahren lernte.
Damals zog ich mich aus einem Sumpf, der war so tief, dass es keinen Grund gab.
Und ich denke, verdammt nochmal, Sascha. Was du damals geschafft hast, kannst du heute wieder!
Ich höre auf zu dealen. Ich arbeite meine Strafe ab. Ich nehme mir vor, das Abitur zu machen.
Am eigenen Schopf will ich mich aus dem Sumpf ziehen.
Ich muss wieder viel an Gott denken und den Engel
; vor allem, ob er tatsächlich ein Engel war? Immer wenn Adam G. die schlimmen Sachen mit mir macht, denke ich daran. Es ist nicht leicht, richtig von falsch zu unterscheiden; was mir die Fantasie vorgaukelt oder was tatsächlich stimmt. Wenn ich nicht an den Engel denke, beginne ich herumzuquengeln. Ich platze fast vor Bewegungsdrang, ich bin es gewohnt, mein Leben rennend zu verbringen. Adam G. hockt bloß herum. Mir war nicht bewusst, dass man so viel herumhocken und nichts tun kann. Also quengle ich weiter, bis er mich mit rausnimmt. Nur kurz sind wir draußen, trotzdem könnte ich jubeln vor Glück. Doch ich sehe auch: Da ist keine Treppe! Nichts führt aus der Erde in den Himmel. Keine Menschen gehen rauf und runter. Ich kann es nicht
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