Schockgefroren
beobachte die Menschen auf der Treppe, wie sie stur hinauf- und hinuntergehen, und frage mich, weshalb keiner herüberschaut. Wie kann ich mich bemerkbar machen? Ich bin so damit beschäftigt, darüber nachzudenken, dass ich nicht merke, wie Adam G. erwacht. Auf einmal steht er hinter mir. Er packt mich an den Schultern und zieht mich vom Spalt weg.
»Ich hab es dir gesagt«, schreit er mich an. »Wenn du abhauen willst, setzt es was.«
Er holt mit der Hand aus und schlägt zu. Ich stürze zu Boden. Adam G. zerrt mich hoch und wirft mich aufs Bett.
»Ich glaube, du brauchst noch was«, sagt er. Ich weiß, was er damit meint, und schließe die Augen, weil ich manchmal immer noch daran glaube, wenn ich ihn nicht sehe, ist er nicht da. Dabei klappt das nie, er ist immer da, und wenn er mir seinen Pimmel in den Po steckt, reiße ich vor Schmerzen die Augen wieder auf.
Er bewegt seinen Pimmel hin und her und hin und her, und dann sagt er plötzlich: »Das gefällt dir, stimmt’s? Es gefällt dir doch, wenn ich das mit dir mache?«
Ich kann nicht sagen, woran es liegt, aber die Welt wird jeden Tag grauer. Und kälter. Das ist, was ich zu meinem Kumpel Björn sage. »Grau und kalt ist die Welt«, sage ich. »Das ist doch echt Scheiße.«
Ich bin fünfzehneinhalb, und Björn ist nicht mein Freund. Er ist bloß mein Kumpel. Wir sind in derselben Klasse und hängen nach der Schule auf dem Schulgelände herum, weil es ewig dauern kann, bis der Bus kommt. Hier, im Niemandsland zwischen Frankfurt, Mainz und Wiesbaden, ist es unglaublich öde. Wir haben eigentlich keine Lust, nach der Schule auf dem Schulgelände herumzuhängen, mit diesen ewig langen, grauen Betonwänden, den grauen Treppenfluchten, den grauen Böden aus Waschbeton. Aber wo sollen wir hin? Also sitzen wir auf einer Mauer und warten auf einen Bus, der irgendwann kommen soll. Wir rauchen, schlagen die Zeit tot.
Ich sollte nicht so viel rauchen. Ich sollte überhaupt nicht rauchen, das hat erst kürzlich der Fußballtrainer gesagt. Er hat recht, ich spüre jede Zigarette im Training, aber irgendwie dachte ich, du kannst mich mal. Ich bin ein guter Spieler, er wird mich schon nicht aus der Mannschaft werfen. Außerdem rauchen andere auch. Wenn er es trotzdem tut, was soll’s. Tischtennis spiele ich ohnehin lieber. Da bin ich bereits in der Bezirksendrangliste und auf dem besten Weg, den Sprung in die hessische Rangliste zu schaffen. Erst letzten Monat schickte mich der Verein auf ein internationales Turnier an der holländischen Grenze, dort habe ich im Doppel die Gegner nur so weggeputzt. Ich kann auch mit Judo oder Taekwondo weitermachen, wenn der Fußballtrainer mich nicht in Ruhe lässt. Ich komme aus dem Sprung in den Spagat, seit ich bei Kwon Che-Wa in Wiesbaden trainiere. Aber irgendwie bin ich lustlos in letzter Zeit, auch die Schule kotzt mich nur noch an. Mann Gottes, immer dieselben blöden Themen. Da vorne steht einer dieser Lehrerschlümpfe und blubbert was von Integralrechnen, der Kontinentalplattenverschiebung und der Photosynthese. Mich treiben andere Themen um, über die keiner spricht. Ich würde zum Beispiel zu gerne mal wissen, wie das so ist mit dem Schicksal. Suchen wir es selbst aus, oder sucht es uns aus? Ist da womöglich gar nichts, außer der riesengroßen Leere, die ich in mir spüre? Die ich sogar sehen kann! Hier auf dem Schulhof, inmitten von grauem Beton, kann ich sie sehen. Sie ist in meinem Kopf. Sie ist in meinem Körper. Ich glaube nicht, dass Björn versteht, wenn ich davon spreche, aber zumindest stellt er keine blöden Fragen. Das macht ihn zu einem guten Kumpel.
»Ich find’s auch Scheiße«, sagt er. »Und der Scheißbus erst, bis der eintrudelt.«
»Wie viel Geld hast du dabei?«, will ich wissen.
Björn hat zwei Mark in der Tasche. Ich habe acht Mark, den Rest von meinem Taschengeld.
»Lass uns was essen gehen«, schlage ich vor.
»Und wenn der Bus kommt?«
»Mann, scheiß auf den Bus. Da kommt auch wieder einer. Es kommt immer einer.«
Wir machen uns auf den Weg zur Pommesbude. Für zehn Mark gibt’s dort Currywurst satt, und für eine Cola reicht’s auch noch. Wir verlassen das Schulgelände, überqueren die Straße, schlagen uns querfeldein bis Hochheim. Dort steht in der Innenstadt ein Einkaufszentrum, für das ebenfalls reichlich Beton vergossen wurde. Ein Mann läuft an uns vorbei, rempelt mich an, dreht den Kopf, geht weiter, ohne was zu sagen. Zwanzig Minuten später sind wir am Einkaufszentrum.
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