Schockgefroren
Photosynthese. Meine Lehrer halte ich nicht länger für ferngesteuerte Schlümpfe. Ich merke, dass ich leicht lernen kann, aber ich merke auch, dass ich mich schnell langweile. Vor allem merke ich, dass Stress mich schnell aus der Bahn wirft. Darum fange ich wieder an zu rauchen. Und nicht nur die Zigaretten vom Kiosk, sondern auch das Zeugs, das ich einmal vertickt habe. Es kann vorkommen, dass ich mir morgens zum Frühstück einen Joint anzünde. Genau das tue ich an einem grauen Wintertag. Draußen liegt Schnee, und ich überlege, ob ich durch den Taunus zur Schule fahre oder die Autobahn nehme. Die erste Variante führt mich über die »Platte« mit ihren Schneeverwehungen. Außerdem muss ich meine Freundin Jasmin abholen, und da liegt die Autobahn näher. Es ist kurz vor halb acht Uhr, als ich auf der A 3 den Blinker setze, um auf die A 66 Richtung Wiesbaden zu kommen. Auf einmal sehe ich einen Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht auf dem Standstreifen stehen.
»Was die da wohl machen?«, frage ich Jasmin und drehe den Kopf, um mir die Sache anzusehen. Das ist gar keine gute Idee, weil mein Fuß auf dem Gaspedal bleibt. Später stellt sich heraus, dass ich mit hundert Stundenkilometern in den Unfallwagen brettere, der hinter dem Polizeiwagen die Spur blockiert. Ein Fiat Ducato, einer dieser Kastenwagen, wie Handwerker sie benutzen, ist ebenfalls zu schnell unterwegs. Er rast auf uns drauf, und die Wucht des Aufpralls schleudert alle drei Fahrzeuge über die Autobahn. Noch bevor ich das Bewusstsein verliere, sehe ich auf der Rückbank eine helle, glitzernde Gestalt. Hallo, denke ich, es ist lange her. Schön, dass du da bist. Dann wird es dunkel. Wieder erwache ich in einem Krankenhaus. Es hat uns beide schlimm erwischt: Mein Brustbein ist gebrochen, die Kniescheibe zersplittert; Jasmin hat mehrere gebrochene Rückenwirbel. Trotzdem sind sich die Ärzte einig: Nach Rekonstruktion des Unfalls dürften wir gar nicht mehr am Leben sein. Es sei ein Wunder, sagen sie. Der Ducato hat meinen Wagen zu einem Haufen Blech umgeformt, ähnlich einer zusammengedrückten Coladose.
»Normalerweise kommt da keiner lebend raus«, sagen die Ärzte. »Sie müssen einen guten Schutzengel haben.«
Das kann man so sagen. Ich habe ihn gesehen, meinen Schutzengel, und noch wichtiger, Jasmin hat ihn ebenfalls gesehen. Er hat die Wucht des Aufpralls abgefangen. Darüber sind wir uns einig, obwohl wir uns sonst über nicht allzu viel einig sind. Auch diese Freundschaft steht ständig auf der Kippe, doch der Unfall schweißt uns nochmals eng zusammen. Wir gehen ein weiteres Jahr miteinander, und für jemand wie mich ist das ein Rekord.
Wegen des Unfalls stehe ich erneut vor dem Kadi. Das Pannenfahrzeug war nicht nach Vorschrift abgesichert, dafür bin ich zu schnell gefahren. Der Richter erkennt auf Teilschuld. Doch was heißt das schon, wenn einem gerade das Leben geschenkt wurde? Sobald ich wieder auf den Beinen bin, stürze ich mich erneut auf die Lernerei, denn wieder einmal habe ich ordentlich was verpasst, und das Abitur steht vor der Tür. Meine Prüfungsfächer Mathematik, Englisch, Deutsch und Wirtschaft bestehe ich alle und beginne kurz darauf eine Ausbildung als Groß- und Außenhandelskaufmann. Es dauert nicht lange, bis ich merke, dass ich wenig Lust darauf habe. Was mache ich hier, frage ich mich von Tag zu Tag, warum habe ich mich nicht zum Studium angemeldet? Aber ich kriege es nicht hin, den Bettel hinzuschmeißen. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt davon, dass ich die Sache durchziehen muss, weil es Teil meines Aus-dem-Sumpf-Programmes ist. Doch ich langweile mich fürchterlich während der Arbeit, und wenn ich das tue, greife ich zu Joints. Dann ist Prüfung, und eine meiner Aufgaben besteht darin, einen Brief mithilfe eines Wickelfalzes in einen Umschlag zu stecken. Hurra, ich schaffe es! Und auch die anspruchsvolleren Aufgaben, die mich am Ende zum staatlich geprüften Groß- und Außenhandelskaufmann qualifizieren. Eines weiß ich: Diesen Beruf werde ich nicht ausüben.
Da bin ich also, 23 Jahre alt, mit Abitur und einer grundsoliden Ausbildung und dem schäbigen Gefühl, so tief im Sumpf zu stecken wie zuvor. Ich habe zu der Zeit eine Freundin, die Französisch und Slowakisch spricht, und deshalb pauke ich nebenher Sprachen. Dann geht auch diese Beziehung in die Brüche, und ich schmeiße die Sprachenschule hin. Ein paar Bewerbungen gehen raus, ich habe hier und dort Vorstellungsgespräche. Nichts will
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