Schockgefroren
einer Faszination für den Kinderschänder: Dass er den Hauptschulabschluss schafft, schrieb sie, könne nur an seiner höheren Intelligenz liegen. Von Werten und Normen der Menschen hätte er nichts erfahren. 1967 kam er einmal in die Universitätsklinik Mainz, wo man eine Schizophrenie feststellte. Drei Jahre später ließ er sich ins Psychiatrische Krankenhaus Eichberg in Eltville einweisen, und wieder wurde Schizophrenie festgestellt. Die Journalistin schrieb, nach heutiger Einsicht stimmt das alles nicht. Nach Eltville kam Adam G. in eine Reha-Einrichtung für psychisch Kranke, aus der er sich nach einem Vierteljahr selbst abmeldet. Damals wussten einige Leute, wie und wo er lebt. Zum Beispiel habe das Gesundheitsamt nie an »den Überlebensstrategien des Herrn Geist« gezweifelt. Die Journalistin schreibt, wie er nach meiner Entführung versucht hat, »dem Jungen hin und wieder auch intim näherzukommen«. Das sei nach einhelliger Meinung nicht der Hauptgrund meiner Entführung gewesen. Vor allem wollte Adam G. einen »kleinen Kameraden« um sich haben. Sie schreibt, er bemühte sich, »gut zu dem Kind« zu sein. Deshalb, schreibt sie, nannte sein Anwalt die Tat einen Hilferuf.
Die Journalistin schreibt, wäre ihm an jenem Tag ein herrenloser Hund über den Weg gelaufen, hätte er vielleicht ihn mitgenommen.
Doch Adam G. lief kein herrenloser Hund über den Weg. Adam G. lief Sascha Buzmann über den Weg. Und Sascha Buzmann war nicht herrenlos. Sascha Buzmann wollte auch nicht der kleine Kamerad von Adam G. werden. Vor allem hätte es sich Sascha Buzmann gerne selbst ausgesucht, mit wem er irgendwann, wenn die Zeit dazu reif ist, intim werden möchte.
Der Schriftsteller und ich sprechen über diesen unsäglichen Artikel. »Warum um alles in der Welt wurde so viel über Adam G. geschrieben?«, frage ich. »Und warum glaubt die Frau, dass andere Leute schuld an seinen Taten sind?«
»Für manche Leute ist die Psychologie der Täter interessanter als die Nöte der Opfer«, antwortet der Schriftsteller. »Das kann daran liegen, weil sie auf eine fette Schlagzeile hoffen. Oder sie erliegen dem Charme des Kriminellen. Oder sie hegen tatsächlich die Hoffnung, dadurch Taten vermeiden zu können. Das ist allerdings ein gefährlicher Boden, auf dem sie sich bewegen. Trügerisch wie Treibsand.«
»Weil die Betonung auf ›vielleicht‹ liegt«, sage ich.
»So ist es. Eine Garantie gibt es nicht.«
Wir reden über alles: Warum es in der Fußballbundesliga keine schwulen Spieler gibt, weil sich keiner das Outing traut, da es in der von der Journalistin beschriebenen Gesellschaft immer noch Zonen absoluter Tabus gibt. Wir reden über Kuchen und Schokolade und Desserts und Tiramisu, mit denen man mich heute noch kriegen kann. Wir reden über Partnerschaft und wie es kommt, dass man sich manchmal totliebt. Wir reden über Charaktereigenschaften und ob man nur ist, was man tut, oder auch das, was man sagt. Ich erzähle endlich, was ich auf die einsame Insel mitnehme: ein 5-Sterne-Hotel. Eine konstante Internetverbindung. Und immer genug zu essen. Das gefällt dem Schriftsteller: »Mehr Platz als in der Kiste«, sagt er, »Kontakt in die Welt, und das Dritte braucht keine Interpretation.«
Dann kommt das Thema wieder auf Adam G. Auf das, was ich ihm sagen würde. Ich weiß es immer noch nicht. Eilt nicht, meint der Schriftsteller. Bücherschreiben ist keine Sprinterdisziplin. Sondern ein Marathon.
Der Polizist ohne Uniform
hat nicht zu viel versprochen. Auf einmal wimmelt es vor Menschen. Sie sind alle wegen mir da. Eine Frau klopft ans Autofenster und will herein, aber es ist abgeschlossen. Ich glaube, sie hätte gerne, dass ich von innen öffne, aber das lasse ich sein. Der Polizist hat gesagt, ich komme zurück, und darauf warte ich. Dann kommt er zurück, macht das Auto auf, streckt seinen Kopf herein. Die Frau sei eine Psychologin. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort höre, und noch weiß ich nicht, was es bedeutet. Er fragt, ob sie sich einen Augenblick zu mir ins Auto setzen darf.
Bevor ich antworten kann, ist sie schon drin. Sie sagt mir ihren Namen, aber ich kann ihn mir nicht merken. Dann will sie wissen, wie es mir geht.
»Gut«, sage ich. Dieses Wort werde ich auch später häufig aussprechen, wenn diese Frage gestellt wird. Doch das weiß ich jetzt noch nicht.
»Was ist passiert, Sascha?«, fragt sie.
Ich schaue mir die Frau an. Sie sieht freundlich aus. »Ich will das nicht sagen«, antworte ich
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