Schockgefroren
den Artikel, ohne die Filme würde ich nicht hier sitzen. Aber das waren tatsächlich Arbeiten anderer über mich. Nun muss ich Farbe bekennen. Jetzt wird es eine Arbeit von mir über mich.
»Und Sie helfen mir dabei?«, frage ich.
»Mit aller Kraft.«
Ich bin nicht an diesen Punkt gekommen, um einen Rückzieher zu machen. »Dann will ich es probieren«, sage ich.
Ein paar Wochen später sind wir bei mir zuhause. Der Schriftsteller hat einen Computer dabei, ein Aufnahmegerät, mehr braucht er nicht. Ich merke bald, wie recht er hat. Wie anders die Arbeit an einem Buch ist. Ich merke es nicht nur daran, weil bisher alle mit mir an den Ort des Geschehens wollten, um ihn zu fotografieren oder zu filmen. Der Schriftsteller will das nicht. Er sagt: »Ihre Erinnerungen an diesen Ort sind wichtig. Nicht die Bilder von heute, sondern die in Ihrem Kopf.« Dann stellt er Fragen. Er stellt ganz andere Fragen.
Er fragt: »Was sagen Sie Adam G., wenn Sie ihn treffen würden?«
In mir ist ein Wasserfall. Ein Tränenfall.
Der speit aus meinen Augen, aus der Nase, ich glaube, es kommen Tränen aus meinem Mund, aus den Ohren. Der Mann vor mir ist hilflos. Der Mann vor mir ist überfordert. Dauernd will er etwas von mir wissen, aber ich verstehe ihn nicht. Seine Stimme dringt nicht zu mir durch.
Dann, endlich, höre ich ihn durch das Rauschen des Tränenfalls.
»Hast du Schuhe?«, fragt er.
Ich schaue hinab auf meine Füße. Nein, da sind keine Schuhe. Habe ich Schuhe? Ich hatte schon ewig keine Schuhe mehr an. Hatte ich Schuhe, als Adam G. mich mitnahm?
»Ich glaub schon«, schluchze ich. »Aber ich weiß nicht, wo die sind.«
»Das macht nichts«, sagt der Mann. »Ich trage dich ins Auto.«
Er beugt sich zu mir herab und will mich hochnehmen. Erst zucke ich zurück, dann lasse ich es geschehen. Alles ist besser, als hier zu sein. Der Mann nimmt mich hoch. Als wir an Adam G. vorbeikommen, kniet der andere noch immer auf ihm. Ich drehe den Kopf weg. Ich will Adam G. nicht mehr sehen.
Auf einmal sind wir draußen. Ich kann es nicht glauben! Aber es stimmt! Wir sind tatsächlich draußen. Wo die Vögel sind. Und die gute Luft. Und die Welt. Und meine Mama und mein Papa. Auf einmal versiegt mein Tränenstrom, als hätte jemand einen Wasserhahn zugedreht. Denn da ist eine Sache, die ich unbedingt erfahren muss. Weil ich schließlich erwachsen bin. Ich frage: »Bist du ein richtiger Polizist?«
Der Mann lacht. Dann sagt er: »Mein Kollege und ich sind Zivilfahnder.« Und weil er in mir nur den kleinen Jungen sieht und keinen Erwachsenen, fügt er hinzu: »So eine Art Polizei ohne Uniform. Das ist jetzt ein echter Zufall, ich kann’s nicht anders sagen. Eigentlich sind wir nur da, weil dieser Mann einem Wirt ein paar Mark schuldet.«
Ich weiß von Adam G., dass Polizisten Scheißdreckskerle sind, ob mit oder ohne Uniform. Doch Adam G. liegt gefesselt im Wohnwagen, und seine Meinung zählt nicht mehr. Der Polizist, der mich von ihm wegbringt, ist jedenfalls kein Scheißdreckskerl! Er könnte mein Freund sein. Das sage ich ihm auch. Und dann sage ich: »Es tut mir leid, dass ich so schmutzig bin.«
»Das macht nichts, das macht gar nichts«, sagt der Polizist. »Hauptsache, du bist …«
Aber er sagt nicht, was die Hauptsache ist. Stattdessen sagt er: »Ich bringe dich ins Auto, dann kommen bald viele Leute. Du musst keine Angst haben. Das sind Kollegen. Das sind alles Polizisten.«
»Haben die eine Uniform?«, frage ich.
»Die haben auch eine Uniform. Die kommen nur wegen dir.«
Wir gehen über das Grundstück, wir gehen durch das Tor. Es steht sperrangelweit auf, es ist nicht zu, die beiden Männer mussten nicht über den Zaun klettern.
»Ich musste drüberklettern«, sage ich zu dem Polizisten, aber ich weiß nicht, ob er versteht, was ich meine.
Vor dem Tor steht ein Auto, und es ist kein Polizeiauto. Noch einmal werde ich misstrauisch. Aber der Polizist hat verstanden. Er sagt: »Wenn wir kommen, sollen die Leute nicht gleich sehen, dass wir Polizisten sind. Sonst hauen die ab.«
Adam G. wäre sicher auch abgehauen. Vielleicht hätte er vorher noch gedacht: Und was ist, wenn der Sascha redet? Was ist, wenn der alles verrät? Vielleicht hätte er dann mit der Pfanne oder dem Hammer oder dem Messer …
»Ist er drin, kommt er ganz bestimmt nicht raus?«, frage ich.
»Der Geist? Der geht nirgendwo mehr hin. Außer ins Kittchen.«
Der Geist. Der Geist. Der Geist geht nirgendwo mehr hin.
Der Geist hat mich nicht
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