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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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Irgendwann fragt er: »Und was ist mit deiner Mama?«
    Jetzt muss es raus, ob ich will oder nicht. Das ist der wahre Grund, weshalb Zürich so weit weg liegt. Es hat nichts mit meiner Wohnung zu tun. Und auch nichts mit dem Buch.
    »Sie ist krank«, sage ich. »Die Ärzte sagen, es geht ihr sehr schlecht.«

»Ich will da nicht rein«,
sage ich zum Kommissar.
    »Ist nur für einen Augenblick. Für das Foto. Keine Angst, ich bin bei dir.«
    Schon hat er mich aus dem Auto geholt und auf seine Arme genommen. Jetzt geht es den ganzen Weg zurück. Eben hat mich ein Polizist in Zivil rausgetragen, jetzt trägt mich einer in Uniform wieder rein. Durch das Tor. Über das Grundstück. Dann liegt das dunkle Loch vor uns, aus dem der Gestank von Fäulnis und Moder dringt.
    Nein! Ich will nicht rein! Ich will da nie wieder rein!
    Aber der Kommissar überschreitet die Schwelle, als sei es nichts. Als sei es nichts, trägt er mich zum Bett. Dort sitzt Adam G., die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er hebt den Kopf. Sein Gesicht verzieht sich; ich weiß nicht, ob es ein Lachen ist oder ob er losheulen wird. Ich habe diesen Ausdruck noch nie an ihm gesehen.
    »Sascha«, sagt er. »Ich will dir sagen …«
    Einer der Zivilpolizisten tritt ans Bett. Den habe ich gar nicht wahrgenommen, ich hatte nur Augen für Adam G. Warum muss ich zurück zu ihm? Warum?
    »Halt’s Maul«, sagt der Zivilpolizist. »Du kannst nur noch Punkte sammeln, wenn du’s Maul hältst.«
    Adam G. hält das Maul und ich auch. Wir halten beide das Maul, als der Kommissar mich aufs Bett setzt.
    »War es so?«, fragt er den Zivilbeamten.
    »Der Junge saß im Schneidersitz. G. hatte die Füße auf dem Boden, den Oberkörper zum Fernseher. Vom Fenster aus konnte ich nicht sehen, was lief.«
    »Kannst du dich in den Schneidersitz setzen?«, fragt mich der Kommissar.
    Dann machen sie Fotos. Adam G. und ich sitzen auf dem Bett, wie wir immer auf dem Bett gesessen sind. Und halten das Maul. Ich bin nicht nett und höflich und habe auch keine Lachmaske auf. Adam G. nestelt nicht am Hosenschlitz und sagt nicht, dass ich ihn in den Mund nehmen soll. Ansonsten ist es, wie es immer war, nur dass wir jetzt Zuschauer haben. Und drei Polizisten – ein echter Kommissar und zwei in Zivil – können nicht verhindern, wie mich erneut die Scheißangst überfällt. Selbst die Handschellen um Adam G.’s Handgelenke können das nicht verhindern. Allein die Nähe von Adam G. reicht. Sie reicht, dass mich die Scheißangst zittern lässt.
    Währenddessen klickt der Fotoapparat. Klick, klick, klick. Und noch ein Foto und noch eines, weil es hier drinnen so dunkel ist.
    Klick, klick.
    Dann sagt der Kommissar: »So. Das hätten wir. Ihr nehmt G., ich den Jungen. Du freust dich doch sicher auf deine Eltern?«
    Die Zivilbeamten zerren G. vom Bett hoch. Er dreht das Gesicht zu mir, aber ich schließe rasch die Augen. Als ich sie wieder öffne, ist er weg.
    Adam G. ist weg.
    Wie ein Geist. Einfach weg.
    Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.

Seit ein paar Tagen bin ich in der Schweiz, und doch muss ich ständig an zuhause denken: zum Beispiel, wie mich einmal in der Woche mein Papa zum Einkaufen abholt. Ich helfe ihm, die schweren Sachen zu schleppen. Er ist zwar noch rüstig, aber es muss nicht sein, dass er sich damit abmüht. Außerdem will ich ja bei Mama vorbei. Sie hat in den letzten Jahren viel von ihrer Mobilität eingebüßt. Ihr Blutzuckerspiegel ist zu niedrig, immer häufiger wird ihr schwindelig, und sie muss sich hinlegen. Nach dem Verräumen der Einkäufe bleibe ich zum Essen. Fühlt sich Mama nicht gut genug, schwinge ich den Kochlöffel. Auch am nächsten Tag schaue ich vorbei und an allen anderen Tagen. So weit, so gut. Doch kaum bin ich zuhause, läutet das Telefon. Mama ist dran und erzählt mir, was sie gerade vergessen hat zu erzählen. Meistens ist es nichts, was den Lauf der Welt stoppen wird. Meistens hat sie es mir ohnehin schon gesagt. Bin ich gut drauf, lache ich darüber. Ich sage, Mama, ist das wahr? Unglaublich! Das ist passiert? Wenn ich gut drauf bin, bin ich der höfliche, zuvorkommende Sascha, der mit der Lachmaske. Aber ich bin nicht immer gut drauf. Manchmal erwache ich nachts aus Alpträumen und verbringe die Zeit bis zum Morgen halbdösend vor dem Computer. Wenn dann das Telefon klingelt, und Mama ist dran, funktioniert es nicht mit der Lachmaske. Dabei wünsche ich mir nichts mehr, als dass meine Mama fröhlich ist, und will nichts weniger,

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