Schockgefroren
vorsichtig. Aber die Frau wird nicht böse. Zumindest lässt sie sich nichts anmerken. Vielleicht will sie auch nur nett sein. Vielleicht hat sie eine Lachmaske auf.
»Das musst du auch nicht«, sagt sie. »Kein Problem.«
Schon wieder klopft es ans Fenster. Ein anderer Mann steht draußen. Er hat eine Uniform an. Auch er nennt einen Namen, den ich wieder vergesse. Aber er sagt, er sei Kommissar. Das kann ich mir merken. Er ist Kommissar, ein echter Polizist.
Ein echter Polizist weiß, was zu tun ist. Er sagt zu mir: »Du musst noch mal rein in den Wohnwagen, Sascha. Wir müssen ein Foto machen.«
Der Hauptbahnhof von Wiesbaden ist der Hauptbahnhof einer Landeshauptstadt, aber das sieht man ihm nicht an. Alle paar Stunden fährt ein Fernzug ein oder ab. Ansonsten gibt es nur einige Nahverkehrszüge oder S-Bahnen in Richtung Frankfurt und Mainz. Ich mag ihn, den Wiesbadener Hauptbahnhof. Steige ich nach einem Job hier aus, gibt er mir das Gefühl, nach Hause zu kommen. Wenn ich von ihm wegfahre, beginnt die große Welt gleich dahinter.
Jetzt stehe ich an einem der wenigen Gleise, um wegzufahren. Ein Blick auf meine Fahrkarte bestätigt, dass ich dabei bin, den großen Schritt zu wagen: Wiesbaden – Frankfurt – Mannheim – Karlsruhe – Freiburg – Basel Badischer Bahnhof – Basel Schweizer Bahnhof – Zürich heißt meine Route.
Michaela hat angerufen. Michaela hat mehrmals angerufen. »Komm, probier es«, sagte sie. »Warst du nicht mal selbstständig? Also gut, Subunternehmer eines Subunternehmers, aber trotzdem, selbstständig. Bei uns kannst du selbstständig arbeiten. Und hast du nicht gesagt, du willst nicht länger bedienen? Was kann schon schiefgehen? Falls es dir nicht gefällt – die Hotelbranche läuft dir nicht davon. Es gibt immer Menschen, die essen wollen. Es gibt immer Menschen, die was zu trinken brauchen. Also, gib deinem Herzen einen Stoß.«
Sie hat alle guten Argumente auf ihrer Seite. Ich habe bloß eines, das eher lahm daherkommt: meine gemütliche kleine Wohnung, mein rettender Hafen, wo Ketten vor Fenstern und Türen für vermeintliche Sicherheit sorgen. »Papperlapapp«, sagte Michaela. »Rettende Häfen gibt’s hier auch. Keiner weiß das besser als ich.«
Sie hat mich fast schon weichgekocht. Verdammt nochmal, ich will ja was Neues. Vor allem will ich etwas, das mir Spaß macht und sich auszahlt. Klammheimlich hege ich einen Traum, den ich keinem erzählt habe. Ich kenne die Schweiz. Ich habe dort schon gearbeitet. Das Land gefällt mir. Es würde mir sehr gefallen, eines Tages meine Mama und meinen Papa nachzuholen.
Aber da ist noch etwas. Ich arbeite an einem Buch. Ist es nicht besser, eines nach dem anderen zu tun? Jetzt das Buch und dann, vielleicht, irgendwann, die Schweiz?
Ich rufe den Schriftsteller an. Der fragt: »Schweiz? Zürich? Da bin ich so schnell wie in Wiesbaden.«
Er ist keine Hilfe, der Schriftsteller, wenn es darum geht, Dinge aufzuschieben.
Also wechsle ich das Thema. Ich frage ihn, was er von Weissagungen hält. Von Handlesen und solchen Dingen.
»Tja«, sagt er, »in Indien sind sie Teil der astrologischen Wissenschaften.« Dann erzählt er, seit er sich im indischen Varanasi aus der Hand lesen ließ, trage er einen Saturnstein am Finger. »Beantwortet das deine Frage? Ich halte einiges davon. Aber warum willst du das wissen?«
»Glaube es oder nicht«, antworte ich, »vor zwei Jahren hatte ich einen Job in Speyer. Eines Tages spricht mich eine Zigeunerin an. Zumindest denke ich, es war eine. Dunkle Haut, die Haare in ein Kopftuch gebunden, drei Röcke übereinander. Sie will mir aus der Hand lesen. Ich frage, wie viel, und sie antwortet: ›Zehn Euro.‹ Die habe ich in der Tasche, weil ein Gast spendabel gewesen ist. Also sage ich: ›Na gut.‹ Sie nimmt meine Hand, und ich denke, jetzt kommt das Übliche, Lebenslinie, Kopflinie, Herzlinie und all der Kram. Stattdessen sagt sie: ›Du wirst in drei Jahren in der Schweiz leben. An einem See. Du verdienst gut. Du hast eine Frau dabei. Und deinen Vater.‹ Dann lässt sie meine Hand los, schnappt das Geld, und weg ist sie. Und ich? Ich bin enttäuscht! Ich bin mega enttäuscht, weil ich gedacht habe, sie erzählt mir was Brauchbares. Damit kann ich doch nichts anfangen. Doch auf einmal schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich rufe hinter ihr her: ›Moment mal! Was ist mit meiner Mama?‹ Da ist sie schon in der Menge verschwunden.«
Der Schriftsteller am anderen Ende der Leitung schweigt.
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