Schockgefroren
mehr.
Der Geist hat Handschellen an.
Plötzlich ist in mir ein riesengroßes Glücksgefühl. Nie zuvor und nie danach habe ich so etwas verspürt. Das Glück ist überall: in meinen Haarspitzen und in den Zehen. In meinen Händen und den Knien. Im Bauch, im Kopf, auf dem Gesicht und in den Beinen. Es ist nicht in meinem Po. Da kann es nicht sein. Ansonsten ist das Glück überall.
Der Polizist macht das Auto auf. Er setzt mich auf den Rücksitz und sagt: »Ich muss nochmals rein und meinem Kollegen helfen. Keine Angst, ich komme wieder. Ich schließe das Auto zu. Ist das in Ordnung?«
Ja, es ist in Ordnung. Das Glücksgefühl hat mich. Ich sehe dem Polizisten nach, wie er das Grundstück betritt. Wie er durchs Tor geht, als sei es das Einfachste der Welt. Wahrscheinlich ist es auch einfach, wenn man Polizist ist. Dann verschwindet er im Wohnwagen. Auf einmal fällt mir ein, wem ich meine Befreiung zu verdanken habe. Wieder kommen mir Tränen. Nicht dem Zufall, sondern der nicht bezahlten Zeche.
»Lieber, lieber Gott«, sage ich. »Danke, dass ich nicht mehr da drin sein muss!«
Wir sitzen am Tisch und sprechen. Wir gehen mittagessen und sprechen. Wir sitzen erneut am Tisch und sprechen. Wir gehen abendessen und sprechen. Ich werde bald Sprechmuskelkater haben, wenn das so weitergeht. Und es geht so weiter. Ich lerne, dass man eine Menge sprechen muss, bevor man ein Buch schreiben kann.
Dann fährt der Schriftsteller nach Hause, und ich bin wieder alleine. In ein paar Wochen werden wir uns wieder treffen. Im Gegensatz zum Film geschieht die Arbeit an einem Buch in einem langsameren Tempo.
»Das alles braucht seine Zeit«, sagt der Schriftsteller. »Ein ganzes Leben in ein Buch zu packen ist eine Herausforderung.«
Ich habe fast alle Fragen beantwortet, bis auf eine: Was sage ich zu Adam G., sollte ich ihn treffen?
»Ich werde ihn nicht treffen, er sitzt hinter schwedischen Gardinen. Beziehungsweise in einer geschlossenen Anstalt. Ich weiß nicht mal, in welcher«, war meine erste Reaktion gewesen.
»Das ist keine Antwort«, sagt der Schriftsteller. Er kann manchmal ganz schön streng sein. War es so, oder war es so, will er wissen. Oder war es anders? Wie hast du dich dabei gefühlt? Immer fragt er nach meinen Gefühlen. Und dann will er auf einmal wissen, was ich auf eine einsame Insel mitnehme. »Was nimmst denn du mit?«, kontere ich.
»Sag ich dir gerne. Aber nach dir.«
So geht das Tag für Tag. Es war einfacher, vor der Kamera zu stehen. Aber ich will dieses Buch. Ich will es unbedingt. Denn es gibt so viel zu klären. Zum Beispiel diesen Artikel einer renommierten Journalistin:
1994 erschien ihr Text über Adam G., als er sich wegen der zweiten Entführung eines kleinen Jungen vor dem Landgericht Mainz verantworten musste. Darin vergleicht sie Adam G. mit einem Nichtschwimmer auf hoher See, dem die Passagiere eines Luxusliners einen Strohhalm anstatt eines Rettungsrings zugeworfen haben. Jetzt wundern sie sich darüber, warum er ihn nicht ergreift. Damit will sie ausdrücken, dass die Passagiere des Luxusliners Verantwortung für Adam G. haben. Diese Passagiere des Luxusliners, das ist die Gesellschaft. Die Journalistin will damit ausdrücken, wir alle tragen die Verantwortung an den Verbrechen von Adam G., also auch ich. Die Journalistin schreibt, »selten ist eine Wiederholungstat so perfekt organisiert worden«, ganz so, als hätten wir Adam G. zum Kinderschänder gemacht. Sie beschreibt die »katastrophalen Verhältnisse«, unter denen er aufwachsen musste. Obwohl sein Vater nach der Kriegsgefangenschaft bei der Hessischen Polizeischule Arbeit fand, sei die Familie im Wohnwagen geblieben, zwischen Müll, Kot und Unrat. Die Notdurft sei im Garten verrichtet, das Trinkwasser aus einem unsauberen Bach geschöpft worden. Das Kind Adam G. sei in fast völliger Reizabgeschiedenheit gehalten worden. Sie vergleicht ihn mit Kaspar Hauser – diesem geheimnisvollen jungen Mann, der am 26. Mai 1828 in Nürnberg auftauchte und von sich behauptete, dass er zeit seines Lebens bei Wasser und Brot in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden sei. Das erregte viel Aufsehen, und man verstieg sich zur heute widerlegten Theorie, Hauser sei der Erbprinz von Baden gewesen.
HIC JACET CASPARUS HAUSER AENIGMA SUI TEMPORIS – hier liegt Kaspar Hauser, Rätsel seiner Zeit – steht auf seinem Grabstein in Ansbach.
Nein. Adam G. ist kein Kaspar Hauser. Er ist auch kein Rätsel seiner Zeit. Die Journalistin erlag
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