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Schockstarre

Schockstarre

Titel: Schockstarre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Schmöe
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klarsichtiger, einfühlsamer Mensch. Einer, der begriff, worauf ich hinauswollte, obwohl ich mich nicht immer geschickt ausdrücke. Solches Verständnis findet man nicht oft.«
    Diese Beschreibung passte so ganz und gar nicht zu dem Eindruck, den Katinka bisher von dem Mordopfer gewonnen hatte. Lehmann streckte den Kopf ins Wohnzimmer.
    »Dummerweise kann ich Ihnen nur Tee anbieten. Ich war noch nicht einkaufen, und die Filtertüten sind ausgegangen. Sie trinken doch Tee?«
    »Ja, gern«, log Katinka und sah aus dem Fenster. Seidmannsdorf. Was für ein Ort. Versunken im Schnee, mit elektrischen Weihnachtslichtern hinter jeder Scheibe, das ganze Dorf spielte Lichtorgel. Nikoläuse kletterten über Dächer und enterten Balkone.
    Benno Lehmann balancierte Teegeschirr auf einem Tablett herein.
    »Ich habe es in der Presse gelesen«, sagte er und wies auf die Zeitung. »Die haben zwar keinen Namen genannt, aber ich hatte schon so eine böse Vorahnung. Ein Werbetexter, heißt es hier. Keine Ahnung, wieviele es davon in Coburg gibt, aber …« Er stellte das Tablett ab. »Ich habe manchmal solche Intuitionen. Ich habe gleich an Frank gedacht.«
    Er ging in die Küche und goss den Tee auf. Katinka überflog den Artikel. Die Polizei suchte Zeugen. Personen, die zur Tatzeit, kurz davor oder danach im Hofgarten gewesen waren und Beobachtungen gemacht hatten, die zur Aufklärung des Mordfalls beitragen würden.
    »Die spinnen ja, die von der Zeitung. Wer läuft bei der Kälte und dem miesen Wetter nachts im Hofgarten herum!«
    Lehmann kam mit der Teekanne zurück und schenkte Katinkas Tasse voll. Der Tee roch stark, nach Malz und Nelken.
    »Allerdings«, bestätigte Katinka. »Wie sind Sie denn auf Frank Mendel gekommen?« Gewohnheitsmäßig nahm sie ihre Umgebung in sich auf, während sie auf Lehmanns Reaktion wartete. Speicherte das Wohnzimmer mit seinen geblümten Sofas, Scheibengardinen und geschickt arrangierten Lampen in ihrem Gedächtnis.
    »Er hatte eine Anzeige aufgegeben. Warten Sie.« Lehmann suchte auf einem Sekretär herum. »Hier.«
    Katinka griff nach dem Zeitungsausschnitt. Erfahrener Texter und Ghostwriter übernimmt Buchprojekte aller Art . Es folgte Mendels Handynummer.
    »Ich rief ihn an und wir trafen uns«, fuhr Lehmann fort und setzte sich. »Ich wollte einfach mal sehen, ob ich mit ihm kann. Ob ich Vertrauen zu ihm entwickle oder nicht. Er war mir von Anfang an sympathisch.«
    Katinka nippte am Tee. Ihr gefielen Lehmanns offenes Gesicht, der braune Schnauzbart, die weichen Lippen und sein behutsames, ein wenig verschmitztes Lächeln.
    »Ich bin im Juli 2003 dabei gewesen, als der Bus, der uns zum Flughafen bringen sollte, in die Luft flog.«
    Lehmann fuhr sich durch das kurze Strubbelhaar. Seine Finger bebten, und als er weitersprach, wurde seine Stimme immer höher.
    »Ich hatte mit Timo den Platz gewechselt. Ich wollte neben einem anderen sitzen, neben Manni. Wir hatten etwas zu besprechen. Nichts Wichtiges. Als der Bus in die Luft flog, starb Timo. An meiner Stelle.«
    Lehmann sprang auf und rannte wie eine gefangene Ratte im Wohnzimmer herum.
    »Ich bin seitdem arbeitsunfähig. Die körperlichen Verletzungen sind unerheblich. Die steckt man weg. Aber …«
    Katinka dachte an die Passagen in Mendels Manuskript, die sie gelesen hatte.
    »Zunächst sah es so aus, als käme ich drüber weg. Aber nach einigen Monaten hatte ich den Eindruck, komplett durchzudrehen. Ich schlief kaum noch. Wälzte mich im Bett hin und her, schwitzte und fror. Ich hatte das Gefühl, als würde sich mein Körper in die Luft erheben, würde herumgeschleudert, immer höher gesaugt und schließlich auf die Erde zurückgeworfen. Stundenlang. Es war die Hölle.«
    Lehmann trank im Stehen einen Schluck Tee und nahm seinen unruhigen Lauf wieder auf.
    »Der Arzt schrieb mich krank. Ich war in mehreren Kliniken, habe alle Therapien ausprobiert. Manches half mir, das meiste nicht. Deshalb kam ich auf die Idee, meine Erlebnisse aufzuschreiben, um mich so von ihnen zu befreien. Aber ich kam nie über eine Seite raus.«
    Katinkas Zehen wurden kalt. Sie bewegte sie vorsichtig, als könnte jede noch so winzige Veränderung im Raum Lehmanns Redefluss zum Versiegen bringen.
    »Ich habe eine kleine Hütte, hinter dem Dorf, bei den Fischteichen«, machte Lehmann weiter. »Dort habe ich mich für ein, zwei Wochenenden eingebunkert, mit einem Laptop auf den Knien. Aber ich fand einfach nicht in die Geschichte rein, ich wurde richtig wütend dabei.

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