Schockstarre
erschoss einen Ghostwriter im Coburger Hofgarten mit Palfys Beretta. Nie im Leben. Und wenn doch, dann hätte Lehmann auch dran glauben müssen, aber der saß munter vor ihr. Sie gabelte ihre Spaghetti geschickter auf als Lehmann. Die Tütensoße, obgleich angebrannt, schmeckte ihr hervorragend, und ihr Magen bedankte sich für die Mahlzeit, indem er sich entspannte. Lehmann pickte einzelne Spaghettistrippen auf und beobachtete, wie sie wieder auf den Teller glitten.
»Wer hat denn Ihr Buch zu Gesicht bekommen?« Katinka kratzte die letzten Nudeln aus ihrem Teller.
»Niemand. Meine Frau hat mal reingeschaut, das war aber auch alles.«
»Hat Mendel jemanden ins Vertrauen gezogen? Vielleicht einen Kollegen von der schreibenden Zunft?«
Lehmann schüttelte energisch den Kopf.
»Nein. Ich habe ihm die Geschichte erzählt unter der Voraussetzung, dass alles unter uns bleibt.«
Katinka bekam die beiden Enden nicht zu fassen. Oberstleutnant Benno Lehmann wollte seine Erlebnisse loswerden, indem er sie erzählte, aufschreiben ließ und als Buch veröffentlichte, aber gleichzeitig sollte niemand davon erfahren. Lehmann erriet ihre Gedankengänge.
»Das Buch erscheint unter Pseudonym«, sagte er. »Die Namen von lebenden Personen, die im Buch vorkommen, haben wir alle verändert, auch einzelne Eigenschaften, die einen bestimmten Menschen verraten könnten.« Angewidert schob er den halb vollen Teller von sich. »Ich möchte niemandem mit diesem Buch schaden. Es ist nur für mich. Im Grunde ist es mir auch egal, wer es liest und ob es jemand liest.« Er fuhr sich mit allen zehn Fingern durchs Haar. »Mendel und der Verlag sehen darin eine Ware, aber ich … für mich ist es ein Stück meines Leben, ein Geschwür, nekrotisches Gewebe. Das bin ich dann los. Hoffe ich. Falls das Buch jetzt noch erscheint.«
Katinka studierte die roten Soßenschlieren in ihrem Teller.
»Aber ein Lektor oder eine Lektorin im Verlag kennt doch das Manuskript oder wenigstens eine grobe Gliederung der Geschichte, nehme ich an?«
Lehmann zuckte die Schultern.
»In groben Zügen.«
Ein Gedanke erzeugte eine machtvolle Hitzewelle in Katinkas Kopf. Sie fuhr sich unter den Pulloverkragen, lehnte sich zurück und wollte plötzlich vom Stuhl aufspringen und eine Runde um den Tisch drehen. Lehmann hatte gesagt, Mendel habe bis zum vergangenen Wochenende alle Details und Korrekturen einarbeiten wollen. Doch die Dateien waren am 5.1. um 23:23 zum letzten Mal gespeichert worden. Mendel hatte nach dem Treffen mit Lehmann nicht mehr daran gearbeitet, nicht an denen auf dem Speicherstift, und möglicherweise überhaupt nicht, wenn es nirgendwo anders Kopien gab. Katinka zeichnete Muster in die Soßenreste. Hätte Mendel auf seinen anderen Rechnern, die die Polizei sichergestellt hatte, Dateien zum Buchprojekt Lehmann, die Beamten wären längst beim Oberstleutnant vorstellig geworden. Also besaß nur Katinka momentan eine vollständige Datensammlung. Und – neben Lehmann – als Einzige eine Vorstellung, worum es bei dem Ghostwriting-Projekt ging.
Es stimmte nicht ganz. Thurid hatte Mendels USB-Stick an sich genommen. Die Daten zu kopieren dauerte nur Sekunden. Katinka hatte Thurids Laptop nicht durchsucht. Sie sah Lehmann zu, wie er das Geschirr in die Spülmaschine räumte. Sie beide kannten das Buch, dessen Autor kurz vor der Fertigstellung ermordet worden war. Und vielleicht Thurid. Sonst niemand.
»Was für Details waren das, die Sie Mendel noch mitgegeben haben, als sie sich am vergangenen Donnerstag trafen?«
Lehmann hielt inne, über die Besteckeinlage gebeugt.
»Wie ich schon sagte, nichts Besonderes mehr.« Er richtete sich auf und kam an den Tisch zurück. »Ich habe die afghanischen Ortsnamen nochmal recherchiert. Die Schreibweise, verstehen Sie. Ob man Kunduz hinten mit z oder mit s schreibt. Solche Sachen.«
»Sie sollten sich mit der Polizei in Verbindung setzen«, sagte Katinka.
»Ich muss wohl.« Er seufzte. »Ich muss wohl.«
»Sagen Sie denen, Sie hätten die Zeitung eben erst gelesen. Falls Sie mich nochmal sprechen wollen«, Katinka legte ihre Visitenkarte neben Lehmanns Teller ab, »hier ist meine Handynummer. Ich bleibe noch ein paar Tage in Coburg. Und, Herr Lehmann?«
Lehmann sah durch Katinka hindurch.
»Wenn Sie meinen Besuch und meine Existenz vielleicht für sich behalten könnten …«
Er brachte sie zur Tür.
»Eigenartig, nicht? So viele wollen Arbeit, aber sie kriegen keine. Und ich habe meine Arbeit noch,
Weitere Kostenlose Bücher