SCHÖN!
entwickeln?
Nehmen wir die hartnäckige Hitlerliebe der Deutschen, die selbst nach der Niederlage in Stalingrad nicht erloschen war. Laut Hitlers letzter Sekretärin war das Volk dem Führer auch danach noch so zugetan, dass es ihn zum Geburtstag im April 1943 mit Unmengen nationalsozialistischem Kitsch beschenkte, darunter einem Paar selbst gefertigte Pantoffeln, auf dem vor untergehender Sonne das Hakenkreuz erglänzte, und einem Taschentuch mit aufgestickten Miniaturköpfen Hitlers, Hindenburgs, Bismarcks und Friedrichs II. Hinzu kamen, liebevoll verpackt, Kuchen, Torten, Kekse und Obst aus allen Teilen des Landes.
Aus tiefenpsychologischer Sicht spricht die Größe jedes »Führers« unmittelbar das fantasierte Ich-Ideal an, das heißt, die mehr oder weniger unrealistischen Allmachtsvorstellungen, die wir von uns selbst haben. In ihrem Werk Die Unfähigkeit zu trauern erklären die Psychoanalytiker Alexander ( 1908 – 1982 ) und Margarete Mitscherlich ( 1 917 – 2012 ) die Hitlerobsession der Deutschen damit, dass er, indem sie sich mit ihm identifizierten, an die Stelle dieses Ich-Ideals trat. Hitler wurde zum »kollektiven Ich-Ideal«, an das man sich bedenkenlos anlehnen, dem man wie einem Vater Verantwortung übertragen konnte. An Hitlers Größe hatte jeder Einzelne teil, der ihn bewunderte. Alle, die Hitler liebten, liebten das Gefühl der Größe, das er ihnen verschaffte. Wie Joseph Goebbels einmal schrieb: »Je größer und ragender ich Gott mache, desto größer und ragender bin ich selbst.«
Die »Größe« von Männern wie Hitler (und derer, die sich mit ihnen identifizieren) ist ein Trugbild. Was an ihnen groß ist, ist allein das Ausmaß ihrer Verbrechen.
POSEN: Wie Hitler war auch Jim Jones Meister darin, die eigene Person in Szene zu setzen. In seinen stundenlangen Gottesdiensten, die durch enthusiastischen Gospelgesang und Tanz eingeleitet werden, tritt »Vater« – ähnlich wie der späte Elvis Presley (s. Kap. 5 ) – grundsätzlich mit schwarzer Sonnenbrille und schwarz schimmerndem Haupthaar auf. Wenn er spricht, trägt er einen glänzenden Talar. Neben ihm, in roten Hemden und mit schwarzen Krawatten, seine Helfer. Den Höhepunkt jeder Predigt bildet die jeweilige Wunderheilung: Ein vermeintlich kranker Mensch nähert sich Jones auf Krücken und fleht ihn um Hilfe an. Meist ist es eine schwarze gehbehinderte Frau. Kaum hat er sie umarmt oder sanft berührt, wirft sie die Krücken weg, fängt an, vor Freude zu tanzen und läuft demonstrativ durch den Mittelgang.
Jones spielt die Rolle seines Lebens: eine beeindruckende Vaterfigur, eine moralische Autorität sondergleichen. Wie Hitler verführt er durch Posen, nicht durch Persönlichkeit. Was an ihm imponiert, ist nicht die authentische Person. Sondern das makellose Image, die berauschende Inszenierung, der rhetorische Effekt. Ob »Vater« dramatisch mit den Armen fuchtelt oder gütig lächelt – jedes Mal glauben seine Anhänger, einen treu um sie bemühten Menschen vor sich zu haben. Sein intensiver Blick wirkt, als würde er an den Problemen jedes Einzelnen Anteil nehmen. Dabei geht es Jones nur darum, sein Publikum – die anderen wie sich selbst – von der Echtheit seiner Rolle zu überzeugen. Darum, dass er den gegenteiligen Eindruck von dem macht, als was er sich fühlt: als Nichts. So sieht es der deutsche Psychoanalytiker Arno Gruen: »Menschen wie Hitler leben äußeren Erscheinungsbildern nach. Dieses Gehäuse zu verlieren bedeutet, leer zu sein, nicht zu sein. Deshalb ist das Rollenspiel so existenziell für sie, sie können es nicht aufgeben.«
In diesem Sinne ist es nur logisch, dass Jones, bevor er seine Jünger ins Jenseits schickt, ein letztes Mal den »Vater« gibt. Zum letzten Mal färbt er seine Koteletten schwarz – bevor endgültig niemand mehr da ist, in dessen Augen er sich finden kann.
Auch im Falle Hitlers gilt die Verehrung dem brillanten Gesamtkunstwerk – jemandem, der er gar nicht ist. Hitler spielt den rechtschaffenen Souverän mit dem soliden Leben, in dem es Freunde, Frauen und einen Hund gibt. Er trägt sein sorgfältig aufgebautes Führerimage wie eine Maske, nimmt abwechselnd die Pose des Triumphs und des Mitgefühls ein. Er imitiert Schmerz, Freude und Zuneigung, während sich sein tatsächliches Gefühlsrepertoire auf Hass gegen die Juden und Mitleid gegen sich selbst beschränkt. Wie im Falle Jones’ zeigt die Biografie des »großen Hassers« (Sebastian Haffner), dass er sich weder für
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