SCHÖN!
Menschen noch für Tiere noch fürs Leben überhaupt interessiert. Sondern fürs Töten. Hitler ist besessen von seinen mörderischen Fantasien – scheut sich aber davor, sie eigenhändig in die Praxis umzusetzen. Er schaut sich das von ihm befohlene Gemetzel lieber aus sicherer Entfernung an. Den Höhepunkt seiner Tötungsfantasien bildet sein eigener Selbstmord, den er seit den 1920 er-Jahren immer wieder gedanklich durchspielt. Immer wieder erwähnt er Vertrauten gegenüber, dass er sich bei Bedarf möglichst schnell und schmerzlos umbringen werde. Angesichts der unfassbaren, Hitlers Fantasien entwachsenen Realität von circa sechs Millionen ermordeten Juden fällt sein eigener Tod kaum ins Gewicht.
Auch Jones entscheidet sich nicht aus einer Laune heraus, Hunderte umzubringen. Er plant den Massenselbstmord akribisch. Zwei Jahre vor der Katastrophe beginnt er mit wöchentlichen sogenannten Treueproben: Er reißt seine Anhänger nachts aus dem Schlaf und befiehlt ihnen, eine angeblich giftige Flüssigkeit zu schlucken. Auch am 28 . November 1978 folgen sie seinem Befehl. Diesmal ist der Trunk tödlich. Während die Jünger dahinsterben, spricht Jones ins Mikrofon: »(O)hne mich hat das Leben keinen Sinn. Ich bin das Beste, was ihr je haben werdet … Der Tod hat nichts Furchterregendes. Es ist das Leben, das verflucht ist …«
Jim Jones gelingt das Unmögliche: Die meisten seiner Opfer glauben bis zuletzt, dass er eine Mischung aus Jesus und Buddha sei. Zumindest versuchen sie es.
Strahlemänner und Poser des 3. Jahrtausends
Auch lange nach Hitler und Jones werden schöne Lügen wie am Fließband produziert. Von Politikern, Konzernlenkern und anderen »Größen«. Wobei es sich bei den heutigen Blendern nicht unbedingt um Monster handelt. Andere durch Unwahrheiten zu beeindrucken, hat noch nichts mit Barbarei zu tun. Oder doch?
In der digitalisierten, durchgestylten Wohlstandswelt des dritten Jahrtausends ist Imagepflege keine Option – sie ist Pflicht. Zumindest für die, die »es schaffen« und »groß rauskommen« wollen. Zum karrieristischen Erfolg braucht es längst mehr als bloß einen MBA oder eine wie immer erworbene Promotion. Es genügt nicht, sich mit Fleiß und guten Verbindungen zum Bereichsleiter oder Ministerpräsidenten, zum Geschäftsführer oder Vorstandsvorsitzenden hochgearbeitet zu haben. Der Erfolgswillige muss sich vielmehr zur Marke machen. Er muss an seinem Alleinstellungsmerkmal (»Unique Selling Proposition«, kurz USP) in Form einer kernigen Selbstaussage feilen. Er braucht hoch professionelle, hoch aufgelöste Porträtfotos, auf denen er extrem motiviert in die Kamera lacht. Er muss permanent an seinem Auftreten, seiner Rhetorik, seinem Präsentationsgeschick und seinem Führungsstil arbeiten. Und er muss dafür sorgen, dass sein Charisma alles überstrahlt. Um das zu werden, was er nicht ist – selbstsicher, eloquent, schlagfertig, mitfühlend und authentisch, kurz: perfekt – steht ihm ein schier unendliches Angebot an Coachings zur Verfügung.
Wer heute »groß« werden will, muss das entsprechende Training buchen. Er muss lernen, wie man »Erfolg durch Selbst inszenierung« erreicht; sich »in die Köpfe der Menschen« redet; die »Macht der Stimme« ausbaut; »Human Branding« betreibt; eine »profilierte Markenpersönlichkeit« wird; seine »Lebensrollen festlegt und effektiv managt«; »Elemente der Schauspielkunst für den Alltag« nutzt; auf den »Bühnen des Lebens motivierter, wirkungsvoller und erfolgreicher« agiert; und, je nach Erfordernis, einen »Verführer, Strategen oder Bricoleur« – bzw. eine »Umsatzmaschine« verkörpert (gemäß ausge wählter Onlineangebote) …
Die Begrifflichkeit dieser Lehren an sich ist nicht verwerflich. Verwerflich ist es, wenn mit vermeintlich wertfreier Prosa Manipulationsstrategien idealisiert werden. Wenn pfiffige Schlagworte dazu anspornen, die reale Person hinter dem Image verschwinden zu lassen.
Wer sich die Schauspielerei zur zweiten Natur gemacht hat, will für sein Publikum »schön« sein. Von den anderen gesehen zu werden ist ihm wichtiger, als die anderen zu sehen. Das war nicht immer so. Einst war Sehen ein göttlicher Akt. Jahrtausendelang war es das Privileg von Kaisern, Königen, Fürsten, Oberpriestern und Richtern, die Übersicht zu haben – und dabei selbst (als Individuen) unsichtbar bleiben zu dürfen. Große Herrscher erkannte man an ihren Kostümierungen, Diamanten, Wappen, Kronen, Sänften, Kutschen
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