SCHÖN!
bis die Trauben bereit sind, geerntet zu werden. Genau wie seine Gedanken. Ihm ist bewusst, dass alles dem Lauf der Natur unterliegt, dass auch Geist und Körper dem Rhythmus der Jahreszeiten folgen. So entsteht eine bodenständige, vergnügte Philosophie, die Autor wie Leser in immer neuen Variationen dazu verführt, so viel wie möglich von der »Schönheit« und »Süße« des Lebens zu kosten.
Montaignes Lebensrezepte
Montaigne ist ein Skeptiker (s. Kap. 9 ), der an allem zweifelt und alles infrage stellt, was Weisheit für sich beansprucht (am liebsten sich selbst). Er hat eine feine Nase für Unstimmigkeiten. Nicht nur er selbst, sondern das Leben insgesamt erscheint ihm derart paradox, dass er gar nicht anders kann, als sich permanent zu widersprechen. Mal ist er ein überzeugter Einzelgänger, mal ein Ausbund an Geselligkeit. Mal ist er fürs Maßhalten, mal für den Exzess. Erst kommt er fast um vor Trübsinn, dann wieder kann er sich kaum halten vor Lachen. Erst philosophiert er, um zu sterben – dann, um zu leben.
Im Vergleich zu den Lehren der Stoiker und Epikureer, die Montaigne teils bewundernd, teils kritisch zitiert, wirken die Essais wie Kraut und Rüben. Doch dieser philosophische Gemüsegarten birgt einige der originellsten und wertvollsten Lebensrezepte der Philosophiegeschichte:
SINNLICHKEIT: Für Montaigne ist das Philosophieren ein ganzheitliches Geschehen, in dem alle Aspekte des Menschseins eine Rolle spielen. Zwar übernehmen die Gedanken beim Schreiben die Führung – aber »sowohl die Könige wie die Philosophen scheißen, und die Damen auch«.
Im Gegensatz zu Descartes, der zwischen Geist und Körper einen klaren Trennstrich ziehen will, geht Montaigne davon aus, dass der Geist unrettbar mit Körperlichem kontaminiert ist. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass stoische und epikureische Disziplinarmaßnahmen gegen die Gewalt sinnlicher Begierden wenig ausrichten können. Wollust und Hunger wollen sofort befriedigt werden. Sobald sich sein Körper meldet, drosselt der Philosoph seine geistige Aktivität – ohne sie aber ganz einzustellen: »Ich will keineswegs, dass der Geist sich ans Tafeln kette und mit dem Körper im Schlemmen suhle, wohl aber, dass er diesen nicht im Stich lässt.«
Montaigne weiß auch: Je verkopfter der Mensch, desto schläf riger seine Sinne. Deshalb setzt er körperliche Freuden mit Vorliebe als Heilmittel gegen gedankliche Verbissenheit ein. Seit seinem Reitunfall weiß er, dass das Leben zu kurz ist, um es ans Grübeln zu verschwenden. Kulinarischer Genuss hilft ihm, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Wenn er isst, kann er nicht schrei ben und nur schlecht denken. Wenn er isst, isst er. Montaigne ermutigt sich selbst (und uns) zu einem intensiven Genusstraining. Was für große Kriegsherren wie Caesar oder Alexander galt, so der Philosoph, sollte auch für alle anderen gelten: ab und zu eine Pause machen, um die Lust am Genuss neu zu entdecken: »Man sollte den Lüsten weder nachlaufen noch vor ihnen wegrennen – man sollte sie willkommen heißen.«
Ob ungesalzenes Brot, Fleisch, Melonen, wohlriechende Kräuter, das Filet einer Feigendrossel, »Zuckerzeug«, Obst oder Salate – mal meint Montaigne, er müsse alles gierig in sich hineinschlingen, mal mahnt er sich zur Zurückhaltung. Heiter pendelt er von einem Extrem zum anderen. Was ihm als rechtes Maß des Genusses vorschwebt, ist nicht etwa die Mitte zwischen Diät und Völlerei. Es ist die Kunst, Geist und Sinne gleichermaßen zu bedienen. Im Zweifelsfall, meint Montaigne mit Epikur, ist es wichtiger, mit wem man isst, als was man isst. Niemandem, der auch nur über einen Funken Esprit verfügt, kann entgehen, dass eine Soße eben deshalb so köstlich schmeckt, weil man sie in netter Runde bei anregenden Gesprächen genießt. Und weniger, weil sie fachmännisch zubereitet wurde. So oder so lautet Montaignes Fazit: Sinnlichkeit ist ein Geschenk des Körpers an den Geist.
GEDULD: »Wenn meine Gesundheit mir lacht oder ein schöner Tag mit seiner Heiterkeit, wie gut bin ich da zu haben! Kaum drückt mich aber ein Hühnerauge, und schon bin ich unfreundlich, mürrisch und nicht mehr ansprechbar«, schreibt der Philosoph.
Angesichts dieser Wankelmütigkeit hält Montaigne Geduld für die einzig angemessene Reaktion. Nur nicht gleich übermütig werden, nur nicht gleich meinen, das Ende der Welt stehe kurz bevor. Lieber erst einmal abwarten. Ein unangenehmer Zustand vergeht nicht schneller, bloß weil
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