SCHÖN!
Staunen
Mit dem Leben ist es wie mit allen kreativen Tätigkeiten: Nicht auf das Ziel, auf den Weg kommt es an, nicht auf die Perfektion, sondern auf den Versuch . Die Epikureer und Stoiker nannten das Leben folglich eine »Übung«; für den späthumanistischen französischen Philosophen Michel de Montaigne ( 1533 – 1592 ) war es ein Essay – vom damaligen französischen Wort essai für »Versuch«, »(Kost-)Probe«, »Geschmack«.
Montaigne lehrt, dass Geld und Status nichts sind gegen die Fähigkeit, »bei sich zu Hause« zu sein. Um sich in der eigenen Haut, mit den eigenen Gedanken wohlzufühlen, genügt ein dem Terminkalender mühsam abgerungenes Zeitfenster nicht. Es braucht mehr – ungefähr ein halbes Erwachsenenleben.
1570 , mit siebenunddreißig Jahren, gibt Montaigne seinen Job als Parlamentsrat von Bordeaux auf. Nachdem in kurzen Abständen sein bester Freund, sein Vater, sein Bruder und sein erstgeborenes Kind gestorben sind, kann er nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen. Er zieht sich in einen Rundturm des Familienschlosses im südwestfranzösischen Périgord zurück, um in aller Ruhe Gedanken über Vergehen und Sterben nachzuhängen und sich auf seinen eigenen Tod vorzubereiten – getreu dem Motto des Dichters Lukrez (ca. 97 – 55 v. Chr.): »Neues Vergnügen bildet sich nicht durch längeres Leben.«
Doch dann entwickelt sich alles ganz anders als geplant. Die ruhigen Stunden in seiner geliebten Turmbibliothek, in der die Bücher in fünf Reihen übereinander in rundum laufenden Holzregalen stehen, werden ihm zur Qual. Tausend Gedanken gleichzeitig schießen durch seinen Kopf. Um sie zu zähmen, beginnt Montaigne, sie aufzuschreiben. Während draußen die Religionskriege das Land verwüsten, sitzt der Schlossherr an seinem Schreibtisch und notiert, was ihn bewegt. Seine insgesamt 107 Essais kreisen nur um ein einziges Thema: Montaigne. Montaigne und wie er die Welt sieht; Montaigne und wie er ständig seine Meinung ändert; Montaigne und wie er immer weiter abkommt von seiner Todesbesessenheit. Seine Texte sind »Kostproben« der unterschiedlichsten Themen: »Über die Freundschaft«, »Über die Menschenfresser«, »Über Daumen«, »Über die Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Vätern«, »Über die Nachteile einer hohen Stellung«, »Über die Frage, ob der Kommandant einer belagerten Festung zu Kapitulationsverhandlungen herauskommen soll« usw.
Schreibend folgt Montaigne ganz seinen momentanen Empfindungen. Er denkt an vieles, nur nicht an ein zu erreichendes Maximum. Was er hat, genügt ihm. Und überhaupt: Was nützt es ihm schon, adlig zu sein, ein Schloss und ein Weingut zu besitzen, wenn ihm doch so viele derer, die er liebte, genommen wurden? Was nützt es ihm eigentlich überhaupt zu existieren? Montaigne lässt sich nicht hetzen. Er nimmt sich die Zeit, die sein »sauertöpfisch gewordener Geist« braucht, um sich zu regenerieren: »Ich beobachte mich unablässig, ich prüfe mich, ich koste mich … Ich wälze mich in mir selbst.«
Und je mehr er seinen Hirnmuskel trainiert, desto mehr weicht sein Trübsinn einer Leichtigkeit. Desto mehr dämmert ihm, dass das schöne Leben oft nicht mehr als einen Gedanken weit von ihm entfernt ist:
»In Wahrheit ist nichts fröhlicher und frohgemuter als (die Philosophie), nichts spielfreudiger und, fast hätte ich gesagt, überschäumender. Nur Lust und Wonne predigt sie. Wer eine saure Trauermiene aufsetzt, verrät damit, dass sie bei ihm keine Wohnstatt hat.«
Die Wandlung vom Melancholiker zum Euphoriker geschieht unvorhergesehen. In seinen ersten Essays zeigt sich der leidgeprüfte Montaigne noch als überzeugter Stoiker. Dort heißt Philosophieren »Sterben lernen«, die Angst vor der Endlichkeit abzulegen und (getreu Zenon und Epiktet) die gleichgültigen Dinge gleichgültig sein zu lassen. Montaigne übt sich in der Vorstellung des Schlimmsten, was ihm und seinen Lieben zustoßen könnte, und dem gegenüber eine gelassene Haltung anzunehmen. Was nur zur Folge hat, dass er noch ängstlicher, noch besorgter wird. Sein stoisches Mentaltraining manövriert ihn fast in eine schwere Depression hinein – doch dann kommt ihm ein Reitunfall zu Hilfe.
Während eines Ausritts prallt Montaignes Pferd mit einem anderen zusammen; Montaigne wird aus dem Sattel geschleudert, fliegt in hohem Bogen durch die Luft und schlägt hart auf dem Boden auf. Als er blutüberströmt wieder zu sich kommt, fühlt er sich »von der wohligen Süße
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