SCHÖN!
man ständig auf die Uhr schaut. Montaigne weiß, wovon er spricht. Seit seinem vierzigsten Lebensjahr leidet er unter Nierenkoliken. Erbrechen, Fieber und höllische Schmerzattacken zwingen ihn zu immer neuen, meist fruchtlosen Kuren. Hinzu kommen Grippen, Herzbeschwerden, Migränen und andere Unannehmlichkeiten. Während der ausgedehnten Zeiten, in denen der sonst so agile Schlossherr das Bett hüten muss, wird Montaigne nach und nach zu einem Profi im Umgang mit Krankheit. Er lernt, dass es besser ist, Krankheiten höflich zu behandeln, statt sie zu verfluchen – und zwar, indem er ihnen möglichst gelassen begegnet und ihnen genug Zeit gibt, sich an ihm auszutoben: »Wer sie mit herrischer Gewalt zu verkürzen sucht, verlängert und vermehrt sie; er fordert sie heraus, statt sie zu besänftigen.«
Geduldigsein heißt für Montaigne nicht, den Istzustand möglichst demütig zu ertragen. Mit Selbstkasteiung hat er nichts am Hut. Keine Krankheit und kein Arzt der Welt können ihn dazu zwingen, auf Sparflamme zu leben. Der Philosoph warnt sogar vor allzu gewissenhaftem Gesundheitsmanagement. Wenn er Lust dazu hat, lässt er es sich lieber gut gehen, anstatt allzu strikt den ärztlichen Anweisungen zu folgen: »Mit einer Nierenkolik und gleichzeitig dem Verbot geschlagen zu sein, sich dem Genuss von Austern hinzugeben – das sind zwei Übel für eins.«
Der kranke Philosoph denkt gar nicht daran, sich von seinen Gebrechen unterkriegen zu lassen und mehr Zeit als nötig ans Leiden zu verschwenden. Er gewöhnt sich einfach an, die Bitterkeit des Krankseins genauso zu »probieren« wie seinen Wein, und den »Geschmack« des Leidens mit dem der Freude über die anschließende Genesung zu vergleichen. Krank und gesund gehören für ihn zusammen wie süß und sauer, Dur und Moll, hell und dunkel:
»Unser Leben ist wie die Harmonie der Welt aus Gegensätzlichem zusammengefügt, aus ungleichen Tönen: weichen und harten, hellen und dunklen, sanften und strengen. Ein Musiker, der nur die einen liebte – was hätte der uns schon zu sagen?«
Die Botschaft ist klar: Das Leben wird nicht schöner, wenn wir es verzweifelt herbeisehnen. Es wird schön, wenn wir die Geduld aufbringen, es en détail zu erforschen.
GESELLIGKEIT UND FREUNDSCHAFT: Schloss Montaigne ist alles andere als ein stiller Ort. Montaignes Frau, seine Tochter (das einzige von fünf Kindern, das nicht gleich nach der Geburt starb), seine Enkelin, seine Bediensteten sowie zahlreiche Besucher, umherziehende Akrobaten, Tänzer und Hundedresseure, geben sich die Klinke in die Hand. Als Schlossherr und Gutsbesitzer kann es sich der Philosoph kaum leisten, eigen brötlerisch zu werden; erst recht nicht, als er mit siebenundvierzig Jahren zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wird. Aber diese Gefahr besteht sowieso nicht. Der Philosoph hat eine sehr extrovertierte Seite. Er liebt es, (nicht nur beim Essen) unter Leuten zu sein. Montaigne hat nicht bloß am einsamen Denken, Schreiben und Lesen Spaß, sondern auch an der Kontaktpflege und am Netzwerken. Wer sich bei einer Party still in eine Ecke verzieht, für den hat Montaigne kein Verständnis. Er hält es für unabdingbar, sich den Gepflogenheiten verschiedenster Gesellschaften anzupassen, »sogar an Ausschweifungen und Orgien« teilzunehmen. Was das soziale Leben betrifft, soll man alles tun können – aber auch wissen, was man am liebsten tut. Für den Philosophen ist das der Austausch mit möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Leuten. Er zieht Gespräche Büchern vor, solange sie offen und wohlwollend verlaufen und ihn amüsieren. Diskussionen schätzt er so sehr, weil sie die Urteilskraft schärfen und den Horizont weiten: »Wir sind alle in uns eingezwängt und hineingekrümmt, und unser Blick reicht nicht weiter als bis zur Nasenspitze.«
Leidenschaftliche Debatten zu führen, gehört für ihn ge nauso zur Lebenskunst wie die Fähigkeit, sorgfältig zu überlegen, mit wem man sich befreunden will. Er empfiehlt, Miesepeter, Streithähne und solche, die immer irgendetwas von einem wollen, streng auszusortieren. Wozu auch bloß aus Höflichkeit mit anderen zusammen sein? Die besten Kontakte sind die echten Freunde, Seelenverwandte, die man nicht ständig unterhalten muss, sondern bei denen man auch »stumm und träumerisch in sich verschlossen sein darf«, so Montaigne.
Montaigne geht nichts über wahre Freundschaft. Er zieht sie sowohl der Ehe vor (die er eher nüchtern als Handelsbeziehung
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