SCHÖN!
Wenn wir erkennen würden, dass wir hinter unseren fest gefügten Ansichten voller Zweifel sind. Wie wäre es, wenn wir die eigene Borniertheit ablegten, anstatt uns über die Dummheiten der anderen zu ärgern? Wenn wir zugeben würden, dass wir tausend Mal pro Tag irren, weil wir Sein und Schein nicht auseinanderhalten können? Wäre es nicht einen Versuch wert? Montaigne ermuntert uns loszulassen – und uns auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt: unser Glück.
Die Kunst, schön zu leben, ist kein Vorrecht altgriechischer Philosophen und französischer Adliger. Jeder kann sie erlernen. Wie »Hänschen klein« auf dem Klavier oder einen Purzelbaum. Das Schwierige an der Lebenskunst ist, dass sie so einfach ist. Wir sind es, die kompliziert sind. Wir erklären das Leben zu einer komplexen, multifaktoriellen Angelegenheit. Und wir glauben, für komplexe Probleme müsse es komplexe Antworten geben.
Aber die Antwort ist ganz einfach: Lerne, die hässlichen Seiten des Lebens wahlweise zu akzeptieren, zu bejahen oder zu genießen. Das ist alles. Die Lektionen der Lebenskunstphilosophen – von den Kynikern bis Montaigne – sind viel leichter als die Aufgaben, an denen wir uns Tag für Tag abarbeiten: Leisten. Maximieren. Zeitsparen. Aber ist wirklich alles nur eine Frage des Loslassens? Und wenn ja: Was ist der Preis? → Kapitel 9
Einer sei jung, schön, reich und geehrt;
so frägt sich, wenn man sein Glück beurteilen will,
ob er dabei heiter sei: ist er hingegen heiter;
so ist es einerlei, ob er jung oder alt,
gerade oder bucklig, arm oder reich sei;
er ist glücklich.
Arthur Schopenhauer
9 Schön und gut:
Warum es ganz leicht sein kann, loszulassen
Es gibt Menschen, denen das Glück in die Wiege gelegt zu sein scheint. Leute, die von der Poleposition aus ins Leben starten können, weil sie alles haben: Attraktivität, Intelligenz, eine charismatische Persönlichkeit und ein tragfähiges soziales Netz werk. Leider sind diese glänzenden Voraussetzungen keine Garantie für ein gelungenes Leben. Auch der/die Schönste und Intelligenteste muss irgendwann feststellen, dass das Leben Herausforderungen, Leid und Unglück mit sich bringt. Aber warum ist das so? Warum ist das Leben so schwierig? Oder genauer: Warum erscheint es uns so schwierig?
Ein Hauptgrund ist unsere mentale Übersteuerung. Derselbe Logos, der uns über Jahrtausende großartige philosophische Erkenntnisse und bahnbrechende naturwissenschaftliche Entdeckungen ermöglicht hat, behindert uns im Alltag, schön zu leben. Eine Gesellschaft, die Vernunft mit Zweckrationalismus gleichsetzt und Lebenssinn mit Gewinnmaximierung, tut sich schwer mit dem Glücklichsein. Wir sind so sehr daran gewöhnt, uns mit zusammengebissenen Zähnen, geballten Fäusten und Schnappatmung durch den Tag zu kämpfen, dass wir gar nicht mehr auf die Idee kommen, es könne auch anders gehen. Unser Hirn ist darauf konditioniert, Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. Unaufhörlich ist es mit Analysieren, Berechnen und Bewerten beschäftigt. Aber je hirngesteuerter wir agieren, je mehr wir unser Handeln an ausgeklügelten Zielvorgaben ausrichten, desto emotionaler re agieren wir. Denn nichts bleibt, wie es ist. Wenn wir etwas erreichen wollen, erfasst uns Sehnsucht. Wenn wir etwas erreicht haben, Enthusiasmus. Wenn wir noch mehr erreicht haben, die nagende Furcht, das Erreichte wieder zu verlieren. Wenn wir ein Ziel verfehlen, Katerstimmung.
Kurz: Was uns das Leben so schwer macht, sind wir selbst. Oder genauer: unsere Vorstellung, die Dinge müssten genau so und nicht anders sein (nämlich so, wie wir sie gemäß unseren Zielen definiert haben). Je intensiver wir an diesem Dogma festhalten, desto unfähiger werden wir, mit der Realität zurechtzukommen. Die Realität richtet sich eben nicht automatisch nach unseren Zielvorgaben und hat oft anderes im Sinn, als uns glücklich zu machen. So weit die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: Wir können trotzdem ein schönes Leben haben – solange wir einsehen, dass das von Analysen, Berechnungen und Bewertungen unverstellte, natürlich dahinplätschernde Leben selbst das Ziel ist.
Der Sinn der Urteilsenthaltung
Das berühmteste philosophische Heilmittel gegen mentale Übersteuerung ist die Skepsis (von griechisch sképsis für »Betrachtung, Überlegung, Untersuchung«): die Kunst des Zweifelns und Infragestellens. Für uns ist Zweifeln eine Eigenschaft von Grüblern und Schwarzsehern – dem griechischen
Weitere Kostenlose Bücher