SCHÖN!
durchdrungen, die man verspürt, wenn man in den Schlaf hinübergleitet«.
Man trägt ihn nach Hause, und immer noch ist ihm äußerst behaglich zumute. Ein innerer Autopilot lässt ihn sogar noch ein paar organisatorische Dinge erledigen, bevor man ihn zu Bett bringt. Erst als sein Geist wieder zu Kräften kommt, spürt er seine »zerquetschten« und »zerschlagenen« Gliedmaßen.
Jahre später blickt er auf dieses Ereignis zurück und kommt zu dem Ergebnis, dass vernünftige Gedanken gegen den Tod nicht das Geringste ausrichten können. Wenn überhaupt, hilft uns nicht der Logos, die Angst vor ihm zu verringern, sondern nur die »nähere Bekanntschaft« mit ihm. Die Todesnähe liefert Montaigne jedenfalls den unwiderlegbaren Beweis, dass Geist und Körper aufs Engste verbunden sind. Auch wenn wir mit unserem Geist himmelhoch in den Wolken schweben – es sind immer noch unsere Beine, auf denen wir uns fortbewegen, es ist immer noch unser Hinterteil, auf dem wir sitzen, betont der Philosoph. Ganz im Gegensatz zu den Stoikern zweifelt er jetzt an der Allmacht logischen Denkens. Er hat schließlich am eigenen Leib erfahren, dass der Mensch viel weniger im Griff hat, als er glaubt. Unsere natürliche Verfassung, so Montaignes neue These, ist nicht die Verstandesklarheit, sondern die Unsicherheit, die geistige Trunkenheit, »die ungreifbare(n), nebelartig hin und her wabernde(n) Gedanken«. Aber wenn der Geist uns sowieso nicht befähigt, zur Weisheit zu gelangen, weil der Körper immer ein Wörtchen mitzureden hat, ist auch das Räso nieren über den Tod sinnlos. Daraus schließt Montaigne: »Mein Handwerk und meine Kunst ist es, zu leben.«
Von nun an setzt Montaigne seine grauen Zellen nicht mehr ein, um den Tod in Schach zu halten, sondern um zu staunen . Wie die Titel der Essais zeigen, gibt es (fast) nichts, worüber er nicht staunt. Je mehr Zweifelhaftes, Widersprüchliches, Unbegreifliches er an diesem Leben entdeckt, desto schöner, liebenswerter, lebenswerter wird es für ihn. Dazu braucht Montaigne nicht einmal sein Schloss zu verlassen. Die meisten Merkwürdigkeiten findet er in unmittelbarer Nähe. Zum Beispiel seine Katze:
»Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir? Die närrischen Spiele, mit denen wir uns vergnügen, sind wechselseitig: Ebenso oft wie ich bestimmt sie, wann es losgehen oder aufhören soll.«
Montaigne staunt auch darüber, wie sehr sich Hunde, Pferde, Elefanten, Papageien, Zitterrochen, Chamäleons, Spinnen und Menschen in ihren Fertigkeiten ähneln. Er spricht den Tieren sogar eine moralische und intellektuelle Überlegenheit gegenüber dem stets hochmütigen, stets anmaßenden Homo sapiens zu. Damit gelingt es ihm, den wichtigsten Philosophen der Neuzeit in Rage zu versetzen: René Descartes ( 1596 – 1650 ). Wie Montaigne ist auch Descartes ein großer Zweifler. Aber anders als Montaigne zweifelt Descartes nicht an der menschlichen Verstandeskraft. Sein Zweifel ist ein methodischer: Er soll ihm Gewissheit über die Unzweifelhaftigkeit logischen Denkens verschaffen. Nachdem Descartes systematisch alles bezweifelt hat, was nicht niet- und nagelfest ist, erkennt er, dass er eines ganz sicher weiß: dass er es ist, der zweifelt. Wer zweifelt, denkt. Und wer denkt, muss existieren. Von dort führt seine Gedankenkette zu dem berühmten Cogito ergo sum.
Laut Descartes kann dieses Cogito nur ein menschliches, niemals aber ein tierisches sein, denn nur der Mensch ist dazu fähig, diese Welt mathematisch genau zu erfassen. Descartes und Montaigne sind in jeder Hinsicht Antipoden: Descartes will die Dinge voneinander unterscheiden (wie den Menschen vom Tier). Montaigne will sie einander annähern und miteinander befreunden (wie sich selbst mit seiner Katze). Descartes möchte verstehen, Montaigne staunen. Descartes sieht den Menschen als Krone der Schöpfung, Montaigne als ein liebens wertes Mangelwesen voller Ungereimtheiten. Descartes versteht unter Schönheit gedankliche Tiefe und logische Trans parenz. Für Montaigne ist Schönheit aisthesis (s. Kap. 3 ): sinnliche Wahrnehmung, ein »Kosten« und »Schmecken« des Lebens in all seinen Facetten.
Abb. 16: Montaigne auf einem Crayonstich von Jean Charles Fran ç ois, 1 762
Im Unterschied zu Descartes ist Montaigne nicht nur Denker, sondern auch Weinbauer. Durch seine drei Turmfenster blickt er auf die Weinstöcke, sieht zu, wie die Reben wachsen, blühen und reifen,
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