SCHÖN!
Gewaltlosigkeit, aber auch zur Anarchie zu verstehen:
»Je mehr Einschränkungen und Verbote es im Reich gibt, desto ärmer wird das Volk ./ Je mehr scharfe Geräte die Leute haben, desto mehr Verwirrung ist im Land . / … Je mehr Gesetze und Vorschriften erlassen werden, desto mehr Räuber und Diebe gibt es.«
Laozi bezweifelt wie Pyrrhon, dass es auf dieser Welt irgend etwas gibt, was fraglos »gut« ist. Laut Laozi besitzt kein einziger Mensch (und erst recht kein Staatsoberhaupt) nur »schöne« Eigenschaften wie Tugendhaftigkeit, Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit – er ist immer schön-und-hässlich, gut-und-schlecht . Wer sich selbst als Ausbund an Moral begreift, ohne die eigenen Schattenseiten anzuerkennen, verhält sich unter Umständen genauso gewalttätig wie ein Tyrann. Vorgebliches Wohlwollen, das im Namen von Recht und Moral ausgeübt wird, kann anderen genauso schaden wie brutale Missgunst. Wer garantiert, dass sich zum Beispiel hinter einem Gesetz, das Arme begünstigt, kein Eigennutz verbirgt? So oder so gilt für Laozi: Der Fluss des Lebens gerät ins Stocken, wenn wir versuchen, ihm einen anderen Rhythmus aufzuzwingen – durch Nomenklaturen, Vorschriften und Paragrafen. Was wir brauchen, um harmonisch nebeneinander existieren zu können, sind keine Verordnungen, sondern Vertrauen. Vertrauen darin, dass wir trotz unserer Makel fähig sind, uns und anderen ein schönes Leben zu ermöglichen.
Etwas mehr Anarchie im Umgang mit dem »Gesetz« der zeitnahen Zielerreichung und der »Regel« effektiver Planung könnte auch uns nicht schaden – ebenso wenig wie ein gesundes Quantum Zweifel: Ist es wirklich so schlimm, wenn wir nicht erreichen, was wir uns vorgenommen haben? Ist es nicht eigentlich schrecklich langweilig, immer nur von Ziel zu Ziel, von Problem zu Problem zu hetzen? Und ist es wirklich so wichtig, vorgefertigten Konventionen zu folgen? Müssen wir ständig alles messen, berechnen, in Form bringen, optimieren? Müssen wir andauernd mit Sorgenfalten herumrennen, können wir nicht mal öfter lachen? Was außer uns selbst hindert uns daran, loszulassen?
Die Meisterschaft ost-westlicher Gelassenheit können wir nur erreichen, wenn wir nichts mehr unter Kontrolle haben – weil uns erst gar nichts in den Sinn kommt, was wir kontrollieren sollten: weder unser Gewicht noch unseren Partner noch die morgendliche Rushhour. Das tägliche Stop-and-go wird ja nicht deshalb zum »Problem«, weil es Zeit kostet, sondern weil wir glauben, in dieser Zeit ein bestimmtes Ziel erreichen zu müssen. Wir fangen an zu schwitzen, wir fluchen, trommeln aufs Lenkrad und preschen vorwärts, nur um Sekunden später wieder abrupt zu bremsen. Wenn wir dann »endlich« (zehn Minuten später) das Büro betreten, sind wir außer Atem und durch und durch verkrampft.
Mit Pyrrhon und den Daoisten auf dem Rücksitz ginge alles viel leichter. Anstatt die Situation mit »katastrophal« zu be werten, würden wir nur »Epoche!« rufen. Anstatt den anderen Verkehrsteilnehmern den Mittelfinger zu zeigen, würden wir das Auto elegant in frei werdende Lücken manövrieren und vor den ganz Eiligen sanft zurückweichen. Wir würden vielleicht hier und da ein Verkehrsschild übersehen, dafür aber voller Vorfreude auf die Überraschungen, die in dem neuen, kaum angebrochenen Tag stecken, unser Lieblingslied anstimmen. Und wir wären dankbar, ein paar freie Minuten hinzugewonnen zu haben.
Die Kunst des Loslassens ist mit verbissener Zielorientiertheit unvereinbar. Sie erfordert Mut, das hochprofessionelle, mental übersteuerte Erwachsensein abzustreifen. Ein Vierzigjähriger kann kein Vierjähriger mehr sein. Kindliche Unvoreingenommenheit und Genussfreudigkeit aber können wir in jedem Alter aus uns hervorzaubern. Ganz klar: Wenn wir es wagen, in dieser durchstrukturierten, durchgetakteten Welt Kind zu sein, kann uns das teuer zu stehen kommen. Vielleicht müssen wir aufgrund allzu großer Gelassenheit auf die nächste Gehaltserhöhung verzichten, vielleicht kostet uns unser Gleichmut sogar den Traumjob. Aber ist der Preis dafür nicht gering im Vergleich zu dem, was wir im Gegenzug erhalten: Lebendigkeit?
Nur ein »leerer«, von Bewertungen freier Geist kann uns das zurückgeben, was wir uns mit unserem Berechenbarkeitswahn abtrainiert haben: Vertrauen. Die Fähigkeit, die Dinge ohne Einschränkung schön und gut sein zu lassen.
»Kein Volk kann außerhalb
der Schönheit leben.«
Albert Camus
Über die Logik des schönen
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