SCHÖN!
bezeichnet – obwohl es aus chinesischer Sicht weder denkbar noch definierbar ist. Das Dao ist so etwas wie die Intelligenz der Natur, die man nur intuitiv fassen kann. Genaugenommen ist es nicht einmal, es fließt . Wie der Lauf des Wassers, das aus einer einzigen Quelle entspringt und die unterschiedlichsten Formen annehmen kann. Auch der Mensch ist Teil des Dao, ob er sich das bewusst macht oder nicht. Sein Leben ist wie alles vergänglich, und wie alles geht es in den ewigen Wandel ein. Die menschliche Existenz ist also endlich – und doch unsterblich. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich von einer Blume, die wächst, knospt, erblüht, welkt und irgendwo wieder in neuer Gestalt aus dem Boden schießt. Jedes Ende ist ein Anfang . Wer dieser Erkenntnis folgt, lebt ganz automatisch schön, gut (shan) und glücklich, ohne Furcht vor der Zukunft, ohne Angst vor dem Tod.
Abb. 17: Das Dao: wie der Lauf des Wassers
Der Daoismus entstand etwa zur gleichen Zeit wie die philosophische Skepsis. Er ist weder Religion noch Philosophie. Er steht ganz einfach für das So-sein-lassen des unendlichen Wandels. Das früheste daoistische Werk, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland des Meisters Zhuangzi (auch Dschuang Dsi, ca. 370 – 300 v. Chr.), ist kein trockener Traktat, sondern ein ständiger Wechsel von Geschichten, Dialogen und Bildern. Wie für Pyrrhon gibt es auch für Zhuangzi keine »Wahrheit«, sondern nur bestimmte Konventionen, Gewohnheiten oder Ideen, die wir als »wahr« akzeptieren. Auch die Sprache ist nur eine Konvention, die die Unermesslichkeit der Realität niemals fassen kann. Die Sprache ist viel zu starr und einseitig, um an die vielschichtige Wirklichkeit heranreichen zu können. Was man daran sieht, dass sich alles, was wir als hässlich, schlecht, unbrauchbar bezeichnen, von einer anderen Warte aus als das genaue Gegenteil erweist: schön, gut, nützlich. Wie der knorrige Baum aus einer von Zhuangzis Anekdoten:
»(Meister Ki) … bemerkte, dass seine Zweige krumm und knorrig waren, sodass sich keine Balken daraus machen ließen. Er … bemerkte, dass seine großen Wurzeln nach allen Seiten auseinandergingen, sodass sich keine Särge daraus machen ließen. Leckte man an einem seiner Blätter, so bekam man einen scharfen, beißenden Geschmack in den Mund; roch man daran, so wurde man von dem starken Geruch drei Tage lang wie betäubt.
Meister Ki sprach: ›Das ist wirklich ein Baum, aus dem sich nichts machen lässt. Dadurch hat er seine Größe erreicht.‹«
Wie Pyrrhon will Zhuangzi zeigen, dass nichts nur eine einzige, positive oder negative Seite hat. Aber anders als Pyrrhon geht er nicht davon aus, dass alles bloß Schein ist. Er unterscheidet erst gar nicht zwischen Sein und Schein, da nach der Yin-Yang -Logik ja immer beides zusammengehört: Schein-und-Sein, Gut-und-Schlecht, Schön-und-Hässlich. Wie sollte man auch zwei Dinge voneinander trennen können, wenn doch eins ständig ins andere übergeht – wie der Traum in die Wirklichkeit? Zhuangzi macht es Spaß, seine Leser zu verwirren. Wir sollen selbst entscheiden, wie wirklich die Wirklichkeit ist:
»Einst träumte Zhuangzi, dass er ein Schmetterling sei … Nun weiß ich nicht, ob Zhuangzi geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Zhuangzi sei, obwohl doch zwischen Zhuangzi und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.«
Letztlich ist jeder Versuch, die sogenannte Realität logisch zu fassen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn wer garantiert uns denn, dass nicht auch unsere Logik Teil eines Traums ist? Wenn wir träumen können, dass wir aufwachen, wie können wir dann wissen, dass wir wirklich aufgewacht sind? Wer weiß, ob wir überhaupt jemals aufgewacht sind – oder ob wir nicht alle schlafende Schmetterlinge sind …
Wie Pyrrhon hält es Zhuangzi für sinnlos, sich verstandesmäßig an irgendetwas festzubeißen – einer Wirklichkeit, einer Regel, einer Norm, einem Ziel –, dessen Beschaffenheit flatterhaft ist. Was Pyrrhon Urteilsenthaltung nennt, ist für Zhuangzi und alle Daoisten die Leere (xu): Es gilt, das Räsonieren hinter sich zu lassen und den Geist von aller Sprache, allem Geplapper zu entleeren. Wozu? Um zur unverstellten Natur zurückzukehren, an den Ursprung des Dao, wo alles noch offen ist – ein leeres Feld voller Möglichkeiten, wo nichts ist, sondern immer erst wird (wie in der chinesischen
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