SCHÖN!
Schwein wusch … Er verlor nie die Fassung. Wenn jemand ihn mitten im Satz unterbrach, vollendete er ihn ruhig. … Sein Leben stimmte mit seiner Doktrin überein. Er ließ den Dingen freien Lauf und verzichtete auf jegliche Vorsichtsmaßnahme. Gegen drohende Gefahren war er gleichgültig. Zu schnell fahrende Wägen, Straßengräben, wilde Hunde, nichts, was er sah, konnte ihn erschrecken. Es waren seine Freunde, die ihm überallhin folgten, die ihn vor den Gefahren bewahrten.«
Zusammengefasst ergibt dies das Bild eines Menschen, der, je nachdem, wohin ihn sein Gleichmut trägt, mal zum frauenfreundlichen Hausmann, mal zum Selbstmördertum hin tendiert. Pyrrhons Gleichgültigkeit hat aber nichts mit gefühllosem Zynismus zu tun – sie ist schlicht eine (manchmal nicht ganz ungefährliche) Therapie gegen gewohnheitsmäßige Vorurteile und Erwartungen, die die Seelenruhe stören. Skeptisch leben heißt, die Dinge so sein zu lassen, wie sie uns begegnen. Was unschätzbare Vorteile hat – nicht nur, was die eigene Stressresistenz betrifft. Wer Urteilsenthaltung praktiziert, ist immer auch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Denn er kann ja mit allem in Einklang leben, mit den revolutionärsten Überzeugungen und den stumpfesten Konventionen. Wer sich seines Urteils enthält, ist stets friedfertig. Denn ihm fällt ja gar nicht erst ein, andere zu provozieren oder sich von ihnen provozieren zu lassen. Da für ihn alles sowieso nur Schein ist, fasst er eine Beleidigung nicht als Beleidigung auf, sondern als eine Reihe von Tönen, die sich in der Atmosphäre verlieren. Und eine verächtliche Miene? Epoché! Ein Muskelspiel, eine bloße Erscheinung, die wie alle anderen auch äußerst wankelmütig und zerbrechlich ist und von einem Moment zum nächsten wieder verschwinden kann.
Das leuchtet ein – theoretisch. Wie schwierig die praktische Umsetzung des Skeptizismus ist, sieht man daran, dass sogar sein Erfinder nicht immer ganz so gleichmütig war, wie er es sein wollte. Diogenes Laertios:
»Einmal, als seiner Schwester eine Ungerechtigkeit widerfuhr, verlor Pyrrhon seinen Gleichmut. Ein anderes Mal geriet er in Aufregung, als ein Hund ihn anfiel. Als man ihn deshalb tadelte, erwiderte er, dass es eben schwierig sei, das Menschsein ganz abzulegen.«
Wenn die skeptische Lebenskunst überhaupt ein Ziel hat, dann dieses: die Last des Menschseins – das heißt den mit Bewertungen vollgepackten Geist – loswerden, um sich dem Lauf der Dinge nicht permanent entgegenstemmen zu müssen, sondern mit ihm mitfließen zu können. Eine zutiefst spirituelle, »un-westlich« anmutende Einstellung. Kein Wunder, dass Pyrrhons (Nicht-)Lehre gern mit asiatischen Weisheitslehren verglichen wird. Dabei ähnelt die philosophische Skepsis weniger den Vorläufern des Zen-Buddhismus, die Pyrrhon in Asien so beeindruckten, als einer ihm völlig unbekannten Tradition: dem chinesischen Daoismus (auch Taoismus).
Das Dao, »Wu wei« und die Schönheit der Leere
Die westliche akademische Philosophie dreht sich ums Begreifen und Erklären. Stets geht es darum, durch logisches Argumentieren einer bestimmten Wahrheit habhaft zu werden. Bei den altchinesischen Weisheitslehren stand dagegen (wie bei der griechischen Lebenskunst) das pragmatische Meistern des Daseins im Vordergrund. Der Weise galt als »Meister« wie Angehörige anderer ehrbarer Berufsgruppen auch: Künstler, Geschichtenerzähler, Astronomen, Köche.
In den Werken klassischer chinesischer Denker findet sich eine Vielzahl wiederkehrender Motive, die ohne Kenntnis von Geschichte und Tradition nicht leicht verständlich sind. Das bekannteste Motiv ist das Prinzip der Polarität, in der die gesamte chinesische Weltanschauung wurzelt. Es handelt sich um eine uralte Vorstellung, wonach die Welt aus zwei Sphären besteht, einem weiblichen Yin und einem männlichen Yang, einem Dunklen und Hellen, Passiven und Aktiven, Feuchten und Trockenen, die sich in ständigem Wechsel zu einer untrennbaren Einheit zusammenfügen. Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Glück und Unglück, Gut und Böse, Mensch und Natur, Leben und Tod: Alles ist mit allem verbunden, weil alles kommt und geht und sich wandelt, ohne Anfang, ohne Ende.
Die natürliche Lebenskraft, die die Welt durchpulst und jede ihrer Bewegungen verursacht, ist das allumfassende, grenzenlose Dao (zusammengesetzt aus den Schriftzeichen »Kopf« und »Weg«), von westlichen Übersetzern wechselweise als Weg, Sinn, Vorsehung, Gott oder Logos
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