Schönbuchrauschen
Damals waren sie öfters im Schönbuch, Vögel beobachten.«
»Woher weiß man das?«
»Von der Mutter des Toten.«
»Man sieht ja nicht viel auf Ihrem Video. Aber so schlank wie die damals ist die hier auch. Wir fahren ihr sofort nach.«
»Aber zuerst rufen wir die Polizei an«, sagte OW.
»Wir sind hier im Funkloch«, sagte der Förster kopfschüttelnd.
»Richtig, ich erinnere mich. Aber weiter talabwärts bekommen wir ein Netz, oder?«
Sie starteten. OW rief Kupfer an, sobald es möglich war. So schnell es ging, fuhren sie in Richtung Bebenhausen bis zur Teufelsbrücke. Weiter konnte die Frau nicht gekommen sein. Sie drehten um, fuhren das Tal hoch Richtung Herrenberg, machten einen Abstecher Richtung Hildrizhausen, fuhren die Steige Richtung Breitenholz hoch – aber die Frau war nirgends zu sehen.
»Wir haben schlechte Karten«, sagte Schroeder, »wenn sie uns von weitem kommen hört, schlägt sie sich in die Büsche.«
»Aber wenn sie es wirklich wäre, dann würde man wenigstens wissen, dass sie in der Gegend ist.«
»Sie müssen das Video unbedingt der Polizei zeigen. Das muss ausgewertet werden. Wo darf ich Sie hinbringen?«
»Wollen Sie wirklich …?«
»Natürlich. Also: Wohin soll es gehen?«
»Das Nächste wäre der Entringer Bahnhof.«
»Kein Problem.«
Als Emma Wolf kurz nach neun von ihrer Gymnastikgruppe heimkam, sah sie schon von der Straße aus, dass sowohl das Wohnzimmer als auch OWs Arbeitszimmer dunkel waren. Dafür aber sah sie einen schwachen Lichtschein, der durch die nicht perfekt schließenden Rollläden des Schlafzimmers schimmerten. Das stimmte sie etwas besorgt.
»Otto?«, rief sie, als sie ins Haus trat.
»Ja.«
»Bist du schon ins Bett gegangen?«
»Eigentlich nicht.«
Dabei hatte OW sich tatsächlich ins Bett gepackt. Er trug einen Pullover und hielt einen Becher in der Hand.
»Trinkst du jetzt noch Kaffee?«
»Ja, brauch ich jetzt.«
Der Dampf, der der Tasse entstieg, roch aber auch ein bisschen nach Cognac.
»Es war also doch kalt.«
»Ja.«
»Und sonst?«
»Das erzähle ich dir gleich.«
2
Sie trat in die Pedale. Splitt knirschte unter den Reifen, das Bergfinkengezwitscher hielt an. Aber sie hörte nichts davon, auch nicht den empörten Ruf des Mannes. Ihre Hände umklammerten krampfhaft den Lenker. Sie blickte so angestrengt auf den Weg, dass ihre Augen zu tränen begannen. Oder war es der Ärger über sich selbst, der ihr die Tränen in die Augen trieb? Warum hatte sie so heftig reagiert, als sie die Kamera des Mannes in ihre Richtung geschwenkt sah? Bei dem schwachen Licht wäre sie doch auf dem Video gar nicht zu erkennen gewesen. Aber sie hatte die letzten paar Tage sehr angespannt zugebracht. Auch mit der langhaarigen honigblonden Perücke und der Brille hatte sie sich bis zur Unerträglichkeit unsicher gefühlt. Nun waren ihr schließlich die Nerven durchgegangen.
Als sie die Talsohle erreicht hatte und der Weg nicht mehr unmittelbar von Bäumen gesäumt war, atmete sie auf. Im letzten Abendlicht war die Fahrspur noch deutlich genug zu erkennen, auch wenn sie ohne Licht fuhr. Sie schätzte, dass sie in höchstens einer halben Stunde in ihr Auto steigen könnte. Das Fahrrad würde sie zuvor im Gebüsch verschwinden lassen. Und dann würde sie alles hinter sich lassen, ihre Freundschaften, ihre ehrgeizige Doktorarbeit, ihre Heimat, ihr ganzes bisheriges Leben.
Aber sie war noch nicht einmal bis zur Teufelsbrücke gekommen, als sie ein Auto hinter sich kommen hörte. Schnell bremste sie ab und schob das Rad über den schmalen Wiesenstreifen zum Waldrand. In der Dunkelheit der Fichten legte sie es auf den Boden, sich selbst auf den Bauch daneben. Die Spur, die sie im Reif der Wiese zurückgelassen hatte, erschreckte sie für einen Moment. Dann aber sagte sie sich, dass man sie im Vorbeifahren vielleicht gar nicht wahrnehmen konnte. Das Auto kam näher, der Lichtkegel der Scheinwerfer erfasste das Stück Weg, das sie überblickte. Vor Spannung hielt sie die Luft an und atmete erst wieder, als das Auto ihr Versteck mit unverminderter Geschwindigkeit passiert hatte. Sie konnte den kastenförmigen Umriss eines Jeeps erkennen. Suchte ein Forstbeamter nach ihr? Sie hielt es für besser, eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen, ehe sie sich aus ihrer Deckung hervorwagte. Sie richtete sich auf. Je langsamer ihr Atem wurde, umso schneller wirbelten die Gedanken durch ihren Kopf.
Sie hätte nicht hierher kommen dürfen, nie und nimmer! Sie hätte es doch
Weitere Kostenlose Bücher