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Schönbuchrauschen

Schönbuchrauschen

Titel: Schönbuchrauschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietrich Weichold
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Baumkronen am Wegesrand, in denen die Bergfinken um Schlafplätze stritten, heranflogen, gegeneinanderflatterten, sitzen blieben oder weiterflogen. Gute zwei Minuten fing er dieses zwitschernde Chaos ein. Dann schwenkte er seine Kamera langsam auf den heranrasenden Schwarm zu. Unzählige schwarze Pfeile schwirrten über den westlichen Abendhimmel heran. Es war fantastisch! Plötzlich sah er eine Gestalt auf seinem Display.
    »Unverschämtheit! Wie können Sie es wagen«, zischte es ihm entgegen. Ein harter Schlag riss ihm seine Kamera aus der Hand, und auch seine Brille flog ihm in hohem Bogen aus dem Gesicht.
    »Was soll das? Ich habe doch nur … ich wollte bloß …«
    Eine schlanke Frau – so viel erkannte er auch ohne Brille – rannte zu seinem Fahrrad hin, schwang sich darauf und fuhr talwärts.
    »He, das ist mein …« Sein Ruf blieb ihm im Hals stecken.
    Für einen Moment stand OW wie benommen da. Er konnte nicht glauben, was ihm geschehen war. Er griff sich an den Kopf. Die Brille war weg. Er sah seine Umgebung nur noch verschwommen. Das Gezwitscher nahm er kaum mehr wahr. Stöhnend ging er auf die Knie und tastete im gefrorenen Gras des Wegrands nach Brille und Kamera. Er glaubte sich zu erinnern, dass beide nach derselben Seite geflogen waren. Er zog die Handschuhe aus und tastete einen Halbkreis um sich ab, den er Stück um Stück erweiterte. Seine Finger wurden klamm und er spürte die Kälte an den Knien. Der schwarzweißgraue Teppich gefrorener Pflanzenleichen verschwamm ihm zu einer graumelierten Fläche. Verbissen suchte er ihn ab. Handbreite um Handbreite. Er fror.
    Da hörte er ein Auto kommen. Es war ein Jeep. OW stand auf, stellte sich mitten auf den Weg und breitete die Arme aus. Das Auto stoppte.
    »Was ist? Brauchen Sie Hilfe?«, fragte der Fahrer.
    »Ja, vielleicht haben Sie eine Taschenlampe dabei. Ich suche meine Brille und meine Kamera.«
    »Moment.«
    Als der Fahrer die Tür öffnete, sprang zuerst ein Hund heraus, kam schwanzwedelnd auf OW zu und strich um seine Beine.
    »Arno, ins Auto«, befahl sein Herrchen, und der Hund ging zurück. »Nicht dass mein Hund Ihre Brille besprenkelt.«
    Dann leuchtete er mit einer Stablampe die Stelle ab, die ihm OW zeigte. Die Kamera war schnell gefunden.
    »Keine Angst, die Brille finden wir auch noch. Wieso haben Sie denn Ihre Brille verloren?«
    »Ich habe sie nicht verloren. Jemand hat sie mir aus dem Gesicht geschlagen«, sagte OW und erzählte seinem Helfer von der seltsamen Begegnung. »Und ist dann noch mit meinem Fahrrad abgehauen.«
    »Krass. Das war eine heftige Reaktion. Frauen darf man nie ungefragt aufnehmen, das ist schon klar. Aber gleich so brutal zu reagieren? Das ist schon merkwürdig.«
    Er leuchtete weiter den Boden ab.
    »Hier ist nichts«, sagte er nach einer Weile. »Suchen wir mal eine Etage höher.«
    Der Lichtstrahl tastete das niedere Buschwerk ab, vier, fünf Schritte weiter vom Weg entfernt. Und da war sie. Sie hing in Kniehöhe an einem Ästchen.
    »Und sie ist noch ganz, glaub ich«, sagte der Mann aufmunternd und gab sie OW zurück.
    »Herzlichen Dank. Ohne Sie wäre ich jetzt aufgeschmissen gewesen. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Otto Wolf, ich bin aus Herrenberg.«
    »Angenehm. Gerd Schroeder. Ich bin Revierförster. Ich bin gerade da oben in dem Seitental gewesen, weil ich sehen wollte, wie weit sich die Vögel verteilen. Bei so etwas Einmaligem bleibt man schon mal länger im Wald.«
    Dann dachte er einen Moment nach.
    »Ihren Namen habe ich schon einmal gehört. Waren nicht Sie derjenige, der im November an der Neuen Brücke den Toten gefunden hat?«
    »Ja. Das war ich. Aber jetzt will ich sehen, ob das Video etwas geworden ist. Vielleicht sieht man ja die Frau für einen Moment. Leuchten Sie bitte mal.«
    Im Schein der Taschenlampe fand OW die richtigen Knöpfchen an seiner Kamera und spielte das Video ab.
    »Ich hatte auf maximale Empfindlichkeit eingestellt«, erklärte er.
    Und da, ganz am Ende, tauchte auf dem Hintergrund des grauen Abendhimmels die Silhouette der Frau auf, wurde schnell größer, verdunkelte das ganze Display, und dann sah man nur noch schwarz. Der Schlag und der Aufprall der Kamera waren deutlich zu hören.
    »So ein gewalttätiges Weibsbild«, schimpfte Schroeder und fügte dann ganz unvermittelt hinzu: »Der Tote an der Neuen Brücke soll ja von einer Frau umgebracht worden sein.«
    »Daran denke ich auch gerade. Der Tote und seine Mörderin kannten sich aus der Schulzeit.

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