Schönbuchrauschen
aber nicht nach Hause. Du musst in den Wald, mein Lieber. Waldesluft im romantischen Goldersbachtal.«
»Das ist dein Fall, Siggi.«
»Gewesen. Sie ist bei dir.«
Er erzählte seinem Kollegen von OWs aufgeregtem Anruf, den er vor nicht einmal zehn Minuten bekommen hatte.
»Vom Kollegen Zufall habe wir ja schon oft geredet, aber dass es auch den Kollegen Naturphänomen gibt, ist neu. Von den Bergfinken habe ich auch gehört. Aber dass diese Invasion jemand von unserer Kundschaft anziehen würde, hätte ich nicht im Traum angenommen.«
»Allem Anschein nach ist aber genau das passiert. Die Beschreibung passt, und nach allem, was die Mutter des Mordopfers erzählt hat, kann ich mir gut vorstellen, dass die Täterin diese Vogelschwärme einfach sehen musste. Sie muss früher ein richtiger Naturfreak gewesen sein. Also, Schnaidt, lass uns zusammen den Schönbuch dicht machen.«
»Mit einem elektrischen Zaun drum herum?«, spottete Schnaidt.
»Und Stacheldraht. Nein, im Ernst, ich meine, wir sollten in den nächsten paar Stunden die Wanderparkplätze kontrollieren: Entringen, Roseck, Heuberger Tor, Bebenhausen, Weil im Schönbuch, Hildrizhausen. Viele Autos dürften da nicht mehr herumstehen. Die meisten Leute, die dort unten waren, sind garantiert schon wieder daheim.«
»Und sie nicht?«
»Keinesfalls. Die sind ihr doch mit dem Jeep hinterhergefahren und haben sie nicht gesehen. Sie muss sich für eine Weile versteckt haben, und das ist unsere Chance. Ein paar Leute in Zivil müssen an den Parkplätzen alle Leute überprüfen, die wegfahren wollen. Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass ihr Tübinger die beste Aussicht auf Erfolg habt.«
»Tolle Motivation«, sagte Schnaidt mit einem ironischen Lachen.
»Und außerdem wird der Einsatz nicht lange dauern.«
»Warum?«
»Na, weil es kalt ist.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
So spät hatte sie nicht mehr im Wald sein wollen. Sie war zu dünn angezogen und zitterte vor Kälte. Sie musste es riskieren. Sie schob das Rad auf das Sträßchen zurück, saß auf und trat mit aller Kraft, sie wollte sich warm fahren. Aber sie traute sich nicht ganz. Immer wieder hielt sie kurz an und lauschte. Doch da war nichts mehr, kein Auto, niemand. Bis zur Teufelsbrücke, das wusste sie, war das Sträßchen links fast überall von Bäumen gesäumt, hinter denen sie sich im letzten Moment verstecken konnte, falls doch überraschenderweise ein Auto auftauchen sollte. Doch es kam keines. Wald und Wiesen waren totenstill.
An der Teufelsbrücke stieg sie ab. Ohne Handschuhe waren ihre Finger vor Kälte gefühllos geworden. Sie hauchte sie an, rieb sie an ihrer Jacke und steckte sie in die Taschen. Sie überlegte. Weiterfahren konnte sie von hier aus ohnehin nicht mehr. Es war zu gefährlich. Das Sträßchen verlief von der Teufelsbrücke bis zum Geschlossenen Brunnen zwischen dem Bachbett rechts und einem steilen Hang links. Wenn sie hier überrascht würde, hätte sie keine Chance, schnell auszuweichen. Sie legte das Fahrrad unterhalb des Sträßchens am Bach ab. Niemand würde es hier entdecken, solange es dunkel war.
Sie nahm den Weg den Hang hinauf und ging dann im Schutz der Bäume einen Parallelweg lang, der auf halber Höhe nach Bebenhausen führte. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass sie ihren Pfad nur noch als dunkelgrauen Streifen auf einem schwarzen Hintergrund wahrnahm. Drei Kilometer durch die Dunkelheit. Es kam ihr viel länger vor. Ihr Tritt wurde unsicher. Schließlich wurde es ein bisschen heller vor ihr, und sie atmete auf. Sie hatte den Jordan-Traufweg erreicht, stand am Waldrand und schaute auf Bebenhausen hinunter.
Die Nachtluft trübte sich ein. Die Lichter der wenigen Straßenlaternen zeichneten milchige Kreise in die Dunkelheit. Die großen Dachflächen des Klosters ließen sich nur erahnen. Nur der angestrahlte Dachreiter hob sich wie eine weiße Flamme vom schwarzgrauen Hintergrund der bewaldeten Hügel ab. Links davon bewegten sich die Scheinwerfer der Autos, die von der Kälberstelle her nach Lustnau fuhren, wie eine Kette von gelben Punkten. Es konnte noch nicht sehr spät sein. Das war noch der Berufsverkehr.
Sie hörte jemand kommen und trat zwischen die Bäume zurück. Aber es war nur ein Mädchen, das zwei große Hunde ausführte. Sie durfte nicht stehenbleiben. Sie nahm sich zusammen und ging an dem Mädchen vorbei. Ein paar hundert Meter folgte sie dem Weg am Waldrand entlang und ging dann senkrecht eine Streuobstwiese hinunter. Sie
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