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Schönbuchrauschen

Schönbuchrauschen

Titel: Schönbuchrauschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietrich Weichold
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deren Flügelschlag sich wie Windböen, ja geradezu wie das Rauschen eines Wasserfalls anhöre, hieß es da. Der Anflug eines solchen Millionenschwarms komme fast einem Schneesturm gleich, kurz: ein seltenes Naturschauspiel.
    OW sah von seiner Zeitung auf.
    »Was machst du heute Nachmittag?«
    »Ich muss einkaufen gehen. Warum?«
    »Ich möchte ins Goldersbachtal fahren, mit dem Rad.«
    »Leichen suchen?«
    OW lachte und zeigte Emma den Zeitungsartikel.
    »Nein. Da soll es einen Schwarm von fünf Millionen Bergfinken geben. Das muss ich mir ansehen.«
    »Wer hat die gezählt?«
    »Ein Spezialist, ein Ornithologe hat das geschätzt.«
    »Und du findest die Vögel gleich?«
    »Die Schwärme fallen bei Einbruch der Dunkelheit zwischen dem Soldatengrab und dem Ziegelweiher ein, steht in der Zeitung.«
    »Und einen Moment später stehst du nachts allein im Wald und frierst.«
    »Na und? Ich fahr dann über Breitenholz zurück, wie das letzte Mal.«
    »Gut. Du musst wissen, was du dir zutrauen kannst. Aber mach dich nicht wieder so fertig.«
    »Nöö. Diesmal drängt mich ja nichts.«
    Der Ausflug ins Goldersbachtal ließ sich ganz gut an. OW hatte sich wieder eine kleine Wegzehrung eingepackt, hatte sein Rad wieder die Hildrizhauser Steige hochgeschoben und war, allerdings nicht ganz so fröhlich und geschwind wie das letzte Mal, ins Tal hinuntergefahren. Denn es war kalt. In den schattigen Tälern lag Reif und am Wegrand waren die Pfützen gefroren. Er war froh, als er die Neue Brücke passiert hatte und sein Rücken hie und da von den letzten schräg einfallenden Sonnenstrahlen wenigstens ein bisschen aufgewärmt wurde. Nur zwei oder höchstens drei Grad in der Sonne. Das war wenigstens etwas.
    Als er kurz vor vier am Ziegelweiher ankam, hatte sich dort bereits eine kleine Gruppe von Beobachtern gesammelt. Mit Ferngläsern suchten sie den Himmel ab und machten einander darauf aufmerksam, wenn sich ein Vogelschwarm über dem Horizont der noch sonnenbeschienenen Baumkronen zeigte. Anfangs waren es nur kleine Schwärme, und sie flogen noch so hoch, dass man sie mit bloßem Auge kaum wahrnehmen konnte.
    OW entschied sich für einen Standort etwas weiter talabwärts. Dort stand er im Zwielicht auf einer schattigen gefrorenen Wiese und beobachtete, wie die Schwärme sich zu Vogelwolken vereinigten. Über den Buchenkronen am Horizont, die im Abendlicht ein warmes Rotbraun annahmen, flatterte eine Wolke nach der anderen heran. Im Flug gegen die Sonne leuchteten die Vögel in hellem Orange, schwenkten nach der Seite, wurden grau und verschwanden dann im Sturzflug als schwarzer Schwarm hinterm Baumhorizont. Immer wieder dasselbe Schauspiel, hie und da abgewandelt, wenn ein Sperber in den Schwarm flog. Dann änderte sich die Flugrichtung von Tausenden von Vögeln schlagartig, für einen Moment entstand ein flatterndes Chaos, dann wurde aus Orange wieder Grau, ehe der Schwarm neu geordnet hinterm Horizont verschwand.
    Die ersten Beobachter stiegen auf ihre Räder und fuhren weg. Aber OW war mit dem, was er gesehen hatte, noch nicht ganz zufrieden und wollte sich noch nicht auf den Heimweg machen. So stand er bald allein auf der gefrorenen Wiese und beobachtete den leeren östlichen Himmel. Da rauschte es plötzlich von hinten über ihn weg wie eine große Welle, die am Strand ausläuft, so dass er instinktiv den Kopf einzog, und ein Schwarm fegte über die Lichtung und verschwand in Sekundenschnelle vor dem Hintergrund einer schwarzen Fichtenwand. Das ganze Tal lag nun im Schatten. Das wirklich dramatische Schauspiel schien jetzt erst zu beginnen. Mit einfallender Dunkelheit wurde das Gezwitscher lauter und lauter. OW stieg auf sein Rad und fuhr langsam ein Sträßchen entlang, das aus der Talsohle heraus auf die bewaldeten Höhen im Westen führte. Nach ein paar hundert Metern, an einer Wegkreuzung, befand er sich mitten im Schwarm. Es sah aus, als trügen die jungen Birken und Buchen schwarzes Laub, aber das schwarze Laub lebte, die kleinen Silhouetten flatterten hin und her, entfernten sich und kamen wieder, und über ihnen, von Westen her, rauschte ein unaufhörlicher Strom von Vögeln heran. Lautes Gezwitscher, als stritten sich die Vögel um die Schlafplätze, und Böen von Flügelschlägen.
    OW bockte sein Rad auf und ging ein paar Schritte bergauf, weil sich dort die jungen Bäume deutlicher vom grauen Himmel abhoben. Er zückte seine Kamera und versuchte, ein Video aufzunehmen. Erst richtete er das Objektiv auf die

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