Schoene Bescherung
Dürre nicht, die Dicke schon. Es gibt Gesichter, die vergisst man nicht. Auch nach hartnäckiger Verdrängung schmuggeln sie sich immer wieder ins Gedächtnis. Doch das weigerte sich jetzt, mit der Erinnerung herauszurücken. Egal, dachte Plotek, es meldet sich schon noch früh genug.
Frau Klinkermann, die Frau mit der blasslila Dauerwelle und der sprechenden Handtasche, wandte sich erneut an Plotek und verkündete, dass sie bald mal aufs Klo müsse. Und wie zum Nachdruck fing sie gleich von ihrer noch nicht allzu lange zurückliegenden Darmoperation an zu erzählen. Bloß nicht, dachte Plotek. Doch zu spät: Schon war die Erinnerung an seine eigene Koloskopie wieder in seinem Kopf. Darmspiegelung – unangenehm. Jetzt muss man wissen, dass Plotek im Prinzip ein kerngesunder Mensch ist – objektiv betrachtet. Subjektiv dagegen todkrank. Ständig tat ihm etwas weh und ständig ließ er sich untersuchen. Zuletzt wegen Druck im Unterbauch. Doktor Hohenthaler war erst ratlos, dann weniger ratlos, dann war klar: Darm, das hat mit dem Darm zu tun. Zuerst wurde dann ein Hämokkult-Test gemacht, also Stuhlprobe, Test auf verstecktes Blut im Stuhl. Drei Stühle an drei verschiedenen Tagen. Der Kot wird mit einem Pappspachtel auf Testbriefchen geschmiert, dann kommen zwei Tropfen Entwickler-Lösung drauf und nach dreißig bis sechzig Sekunden hält man das Ergebnis in der Hand: Blut im Stuhl! Gibt’s jetzt natürlich mehrere Möglichkeiten. Zyste, Hämorrhoiden, Krebs. Für Plotek nur eine: Darmkrebs! Verdacht auf Darmkrebs. Das sind Ängste. Plotek hat sich schon ohne Darm mit künstlichem Darmausgang im Bett liegen und dahinvegetieren sehen. Mehrmals ist er in der Zeit bis zur Darmspiegelung gestorben – gedanklich jetzt. Die Darmspiegelung selber war harmlos dagegen. Die Vorbereitung umso unangenehmer. Der Darm musste mithilfe von Abführmitteln schon zwei Tage vorher entleert werden. Soll heißen, Plotek verbrachte fast zwei Tage auf dem Klo, dann gab es eine Schlafspritze und dreißig Minuten später das Ergebnis aus dem Mund des Urologen. Kein Darmkrebs, nur Hämorrhoiden. Na ja, nur. Hätte es keinen Krebsverdacht gegeben, hätte Plotek gesagt: Scheiße, Hämorrhoiden. Mit Krebsverdacht: Gott sei Dank nur Hämorrhoiden. Obwohl die auch nicht ohne sind. Zum Teil pfirsichkerngroß! Unangenehm, sehr unangenehm. Seitdem trägt Plotek nur noch schwarze Unterhosen, obwohl die Hämorrhoiden erfolgreich bekämpft wurden – aber man weiß ja nie. Plotek wusste auch nicht, wer ihm nach der Darmspiegelung seine Unterhose wieder angezogen hatte. Eingeschlafen ist er ohne Unterhose, aufgewacht mit. Muss ihm also jemand die Schiesser angezogen haben. Nur wer? Der Urologe selbst oder eine seiner blutjungen Helferinnen? Das wäre Plotek im Nachhinein noch unangenehm und hat ihn noch Wochen später beschäftigt. Im Großen und Ganzen hat es ihn noch mehr beunruhigt als die Hämorrhoiden selbst.
Jetzt beunruhigten Plotek seine wieder entfachten Gedanken an die Koloskopie. Also sagte er, um sich selbst davon abzulenken und dem Wunsch von Frau Klinkermann nach einer Toilette nachzukommen: »Wer muss noch?«
Vier Hände gingen hoch.
»Pinkelpause!«, schrie Herr Wilhelm, der Mann mit der Hasenscharte, von hinten, wobei Schnabels Grinsen wieder im Rückspiegel auftauchte. Dann durchs Mikro: »Bei der nächsten Raststätte!«
Und wieder Grinsen.
»Das sind ja noch fünfundzwanzig Kilometer«, entgegnete die Hasenscharte enttäuscht und vertiefte sich wieder in sein Kreuzworträtsel, das vor ihm auf dem Klapptischchen lag.
»Könnte man nicht auf dem Seitenstreifen?«, fragte Ingeborg Weller, die Dicke neben der dürren Mutter.
»Vielleicht wäre eine der Bustoiletten wenigstens für kleine Geschäfte zu nutzen?«, schlug Frau Klinkermann vor.
»Unmöglich«, zischte Schnabel durchs Mikro. »Die müssen erst repariert werden.«
Wieder Grummeln von den Sitzen. Und aus allen Ecken und Enden Rufe und Fingerschnipsen nach Plotek.
»Herr Plotek!« hier und »Herr Plotek!« da.
»Herr Plotek, bitte, tun Sie was!«
Plotek tat nichts und dachte nur, wenn das bis Karlsbad so weitergeht, dann gute Nacht. Langsam dämmerte es ihm, warum dem Schnabel für eine Woche ein Reisebegleiter fünfhundert Euro, cash auf die Hand, wert war. Langsam ahnte Plotek, wofür er engagiert wurde: als Mülleimer, als Blitzableiter, als Puffer zwischen Schnabel und den Reisenden. Vielleicht auch als Sandsack, auf den die tattrigen Greise einschlagen
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