Schoene Bescherung
nicht, weil es mir vielleicht davor graust, Weihnachten alleine zu Hause verbringen zu müssen. Jahrelang habe ich Weihnachten alleine zu Hause verbracht. Oft auch im Dienst. Hat mir nichts ausgemacht – eher das Gegenteil. Ich war froh, von dem ganzen Weihnachtswahnsinn wenigstens zu Hause verschont zu bleiben.«
»Warum dann?«
»Manchmal habe ich mir auch ein, zwei Nutten eingeladen«, sagte Skolny und Stremmel wurde rot. »Während im Fernsehen die Christmette lief, haben wir Knüppel aus dem Sack gespielt.«
Er lachte wieder. Ob Skolny Ploteks Nuscheln jetzt auch nicht verstand oder ob er es nicht verstehen wollte – keine Ahnung. Hat Plotek auch nicht mehr gefragt – und Überraschung. Nach drei weiteren Becherovka rückte Skolny dann doch noch, als Stremmel gerade auf dem Klo war, mit der Wahrheit heraus.
»Wegen meinem Vater«, sagte er.
Na ja, manchmal klingt die Wahrheit wie gelogen. Und dann klingt wieder eine Lüge, als wär’s nichts als die Wahrheit. Und manchmal ist beides völlig unverständlich – wie jetzt für Plotek. Obwohl Skolny trotz des vielen Becherovka kein bisschen genuschelt hat. Plotek guckte auch dementsprechend. Legte Skolny eben nach.
»Ich wollte das letzte Mal im Leben noch einmal Weihnachten mit meinem Vater verbringen.«
Und wo soll der sein, der Vater?, wollte Plotek fragen. Traute sich aber dann doch nicht. Egal. Skolny beantwortete es trotzdem.
»Der ist auch hier. Hier bei uns, im Hotel. Er weiß nicht, dass ich hier bin. Er weiß gar nichts mehr. Er weiß nicht einmal mehr, wer er ist. Er glaubt, er wäre Kita Kubella, eine Tänzerin. Dabei ist er mein Vater, Igor Skolny – ehemaliger Arzt aus Karlsbad.«
Plotek stand völlig auf dem Schlauch. Entweder spinne ich, dachte er, oder Skolny oder Kubella oder alle zusammen, und sagte dann: »Kita Kubella ist doch eine Frau!«
»Das glaubt mein Vater auch.« Er zündete sich eine neue Zigarette an. Plotek auch. »Ich habe ihn seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Meinen Vater nicht und meine Mutter auch nicht«, sagte er und dachte kurz nach. »Na ja, stimmt nicht ganz, einmal im Fernsehen beim Treffen der sudetendeutschen Landsmannschaft vor vielen Jahren konnte ich sie während einer Rede des damaligen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß im Zuschauerraum erkennen.« Er nahm einen Zug von seiner Filterlosen und hustete wieder. »Bevor meine Mutter dann vor drei Monaten starb, schrieb sie mir einen Brief, vor allem über den Alten, der seit zwanzig Jahren glaubt, jemand anders zu sein: Kita Kubella. Jedes Jahr fährt er über Weihnachten in seine alte Heimat nach Karlsbad.« Skolny hustete erneut, nahm sein Taschentuch und spuckte aus.
»Als wir 45 nach München gingen, hat das mein Vater offenbar nicht richtig verkraftet. Er wurde mit der Zeit immer seltsamer. Als er dann pensioniert wurde, ist er offenbar völlig durchgedreht.«
Plotek sah zum Tresen. Marie-Louise war verschwunden.
»Kennen Sie Daniel Paul Schreber?«
Plotek schüttelte den Kopf.
»Der bekannteste Fall der klassischen Psychoanalyse. Daniel Paul Schreber, ein Mann, Senatspräsident und Reichstagskandidat, der eines Tages von einer Nervenkrise heimgesucht wurde, die ein höchst eigenartiges Weltbild zur Folge hatte. Er glaubte, dass er einer göttlichen Prüfung unterworfen wäre, deren Sinn und Ziel darin bestünde, ihn zu einer Frau zu machen, zu einer Miss Schreber, einem heiligen Medium, das dazu auserkoren wäre, mit Gottvater selbst eine neue Menschheit ins Leben zu rufen: Menschen aus schreberschem Geist.«
Skolny wischte mit der Hand kurz vor seinem Gesicht.
»Das ist kein Witz«, sagte er dann so klar und verständlich, als ob die drei Flaschen Becherovka auf dem Tisch gar nicht da wären. »Das ist alles nachzulesen. Er hat es aufgeschrieben, dieser Daniel Paul Schreber. Über ihn wurde auch einiges erzählt. Freud, Lacan, Canetti – alle haben sich für ihn interessiert. Ähnlich ist es auch bei meinem Vater. Und doch ganz anders. Er ist Kita Kubella und lebt in einer Art Parallelwelt aus schönem Schein und verherrlichender Vergangenheit. Vielleicht sind Ihnen seine seltsamen Klamotten auch schon aufgefallen. Original sudetendeutsche Tracht. Er merkt gar nicht, wie deplatziert das alles ist, und scheint auch nicht zu kapieren, dass er sich lächerlich macht. Niemand interessiert sich für ihn. Nicht mal sein Sohn, also ich. Bis jetzt. Jetzt möchte ich das letzte Mal mit ihm Weihnachen verbringen.«
Spinnt da vielleicht
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