Schoene Bescherung
Klein.
Plotek schlug das goldene Buch auf, guckte in die Runde und fing an daraus vorzulesen. Es war eine langweilige Weihnachtsgeschichte, die Plotek noch langweiliger und völlig vernuschelt vortrug. Immer wieder unterbrochen von hässlichen Hicks. Die Ersten gähnten schon nach wenigen Sätzen. Und wenn Schnabel nicht irgendwann »Ich glaube, jetzt reicht’s« gesagt hätte, wären am Ende alle eingeschlafen gewesen.
Dann verteilte Plotek die nummerierten Geschenke und richtete jeweils ein, zwei Sätze, die er ebenfalls dem Buch entnahm, an den Beschenkten. Dabei ging es bei allen um gute Gesundheit, großen Wohlstand, viel Glück und ähnliche Floskeln. Er dachte, wenn das jetzt Agnes wüsste, und musste hinter dem buschigen Bart lachen. Bis Schnabel ihm einen bösen Blick zuwarf.
Alle bekamen das gleiche Geschenk. Karlsbader Oblaten, ein 5-cl-Fläschchen Becherovka und eine Schnabeltasse. Auch Kita Kubella.
Nur die Worte, die Plotek jetzt an sie richtete, unterschieden sich von den anderen. »Auf dass die Gegenwart bald vorbei ist und alles im Vergangenen ruht«, las Plotek jetzt wieder völlig vernuschelt aus dem Buch.
Kita Kubella lachte.
»Bravo«, rief von Alten und Skolny öffnete sein 5-cl-Becherovka-Fläschchen. »Frohe Weihnachten!«
Dann begann der allgemeine und offizielle Teil der Weihnachtsfeier. Die Musik fing an zu spielen und ein Mann trat ans Mikrofon, den Plotek irgendwo schon einmal gesehen hatte.
»I-i-ist d-d-das n-n-nicht d-d-dieser b-b-bek-k-kannte Sch-sch-schlagerst-t-t-tar?«, fragte Korbinian Stremmel.
»Der war vielleicht mal bekannt«, sagte Silke Klein, »jetzt ist er nur noch alt und singt grauenhaft.«
»Früher schon«, sagte Skolny.
»Heute tritt er nur noch auf Volksfesten auf, zur Eröffnung von Heimwerkermärkten oder in Fliesenparadiesen.« Silke Klein lachte. »Und bei der Weihnachtsfeier im Grandhotel!«
»Vor Oberbayern, Schwaben und Sachsen«, sagte Skolny.
»I-i-ich hätte g-g-gewettet, d-d-der w-w-w-wäre schon t-t-tot.«
»Er sieht zwar so aus, aber ich glaube, leben tut der noch, oder?«
»Nach dem Geschrei zu urteilen schon«, sagte Skolny.
»Vielleicht ist es auch ein Double.«
»Pscht«, zischte Frau Klinkermann.
Vorne begann der Sänger ›0 du fröhliche‹ zu singen.
Frau Klinkermann, Kita Kubella, Frau von Ribbenhold, Helga und Heinz, die Wellers, Herr Wilhelm und von Alten stimmten leise ein. Frau Ribbenhold versuchte, auch ihre Enkelin Marie-Louise zum Mitsingen zu animieren, bis die schließlich »Mensch, lass doch mal!« schrie, vom Tisch aufsprang und verschwand.
»Ach, die Jugend«, versuchte von Alten zu beruhigen, und: »Keine Angst die kommt schon wieder.«
Kam sie nicht, zumindest nicht, solange ihre Großmutter mit am Tisch saß.
Ferdinand Schnabel machte nach den ersten zwei Strophen klammheimlich ebenfalls den Abflug, während der Weihnachtsmann wieder Becherovka in sich hineinschüttete. Skolny dagegen rührte keinen Tropfen mehr an. Er wurde immer stiller und betrachtete mit versteinerter Miene das weihnachtliche Treiben. Silke Klein sagte auch kaum mehr was, aber das, was sie sagte, hatte es in sich.
»So ein Scheiß«, rief sie immer lauter in Richtung der Gesangs-Fraktion.
Bis Frau von Ribbenhold auf den Tisch schlug. »Jetzt reicht’s!«
Was sie nicht wusste: Jetzt ging es erst richtig los.
Als Plotek als Weihnachtsmann von einem kurzen Klobesuch zurückkam, sang außer dem Schlagersänger keiner mehr. Dafür wurde jetzt gestritten. Nicht nur Frau von Ribbenhold und Silke Klein, auch Heinz und Helga hatten sich plötzlich in den Haaren. Der Grund war unklar. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe sind Gründe irrelevant. Frau Weller junior stritt mit Frau Weller senior. Sicher über Goethe. Herr Wilhelm wollte wieder einen Witz loswerden, den Korbinian Stremmel auf keinen Fall haben wollte. Hartnäckig beharrte er: »N-n-nein, b-b-bitte n-n-nicht!«
Dann krachten Frau Klinkermann und Frau von Ribbenhold aneinander, wobei es wie immer um Eifersucht und Herrn von Alten ging, während dieser wieder mal an die streitsüchtige Silke Klein geriet.
Der Schlagersänger trällerte unverzagt: »O du fröhliche, o du selige . . .«
So schnell kann’s gehen, dachte Plotek. Einmal pinkeln und schon ist die Welt aus den Fugen und Weihnachten am Arsch. Irgendwie kam ihm das ziemlich bekannt vor. Heiligabend eben. Wieder Kindheit jetzt. Vater, Mutter, Bruder, Opa, Oma und Plotek als Kind. Im Wohnzimmer vor dem geschmückten Baum. Alle
Weitere Kostenlose Bücher