Schöne Khadija
machst Witze«, behauptete ich.
»Wovor hast du Angst?« Sandy drapierte die Sachen über eine Stuhllehne. »Es sind nur Kleider.«
Nur Kleider ? Ich wünschte, das hätte ich schriftlich gehabt. Was war mit: Kleidung ist ein Ausdruck dessen, was wir sind. Oder mit: Mode ist eine menschliche Erfahrung? Bei Sandy gab es nicht nur Kleider . Misstrauisch betrachtete ich die Sachen auf dem Stuhl.
»Und das hier ist für mich.« Sie bückte sich und griff nach einem weiteren, ebensolchen Bündel. »Der Stoff wird dich nicht beißen. Sieh her.«
Sie zog sich das Gewand an, über Jeans und Bluse. In wenigen Minuten war sie völlig versteckt, man sah nichts von ihr, außer ihren blauen Augen, die über den Rand des Schleiers sahen.
»Nun?« Sie legte den Kopf schief. »Was hältst du davon?«
Was sollte ich jetzt sagen? Gut, sie trug ein langes, formloses Gewand und ihr Gesicht war zum größten Teil verdeckt. Aber sie war immer noch deutlich erkennbar. Ich wusste genau, wie sie unter dem ganzen Schwarz aussah.
Achselzuckend meinte ich: »Ist nicht wirklich deine Farbe, nicht wahr?«
»Vielleicht steht sie dir ja«, gab sie nonchalant zurück und hielt mir das andere Gewand hin. »Warum probierst du es nicht einmal?«
Ich wich zurück. »Lass das jemand anderen machen.«
»Nein, Freya, das habe ich für dich gemacht.«
Wieder sah ich die Kleider an. Seit ich vier Jahre alt war, hatte sie nichts mehr für mich geschneidert.
»Du musst das machen«, behauptete sie. »Bitte. Es dauert nicht lange. Um halb sieben sind wir wieder hier.«
»Wieder hier?«
»Wir gehen nicht weit. Ich will nur zum Battle Hill und dort ein wenig spazieren gehen.«
»Du willst, dass ich das anziehe und damit rausgehe?«
Und das ausgerechnet an einem Ort wie Battle Hill? Dort liefen wirklich Frauen mit echten Schleiern herum. Die Vorstellung war schrecklich. Und unverschämt. Was würde passieren, wenn man uns als Betrügerinnen entlarvte?
»Frag jemand anderen«, verlangte ich. »Frag Stefan . Er tut alles für dich. Er hält dich für den Messias.«
Sandy sah mich kopfschüttelnd an. »Es geht hier nicht um Pantomine. Das ist eine ernsthafte Untersuchung. Deshalb habe ich geglaubt, dass es dich vielleicht interessiert. Aber wenn nicht, dann gehe ich eben alleine.« Sie nahm ihre Autoschlüssel.
»Mach das nicht!«, bat ich. »Bitte!«
Doch sie hörte nicht einmal hin. Sie machte die Tür auf und ging – und ließ mich mit meinen armen Rittern allein.
Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, was passiert ist. Als ich den ersten Bissen nahm, machte mein Gehirn einen Salto. Ich konnte den Blick nicht von den Kleidern auf dem Stuhl wenden. Denn Sandy hatte natürlich recht gehabt. Ich wollte sie anprobieren.
Nacheinander nahm ich die Kleidungstücke auf, ließ den Stoff durch meine Hände gleiten und versuchte herauszufinden, wo die Knöpfe waren. Dann zog ich das lange Kleid an.
Es passte perfekt. (Selbstverständlich tat es das, Sandy hatte es schließlich für mich gemacht.) Die Nähte saßen sauber auf meinen Schultern und der Rock fiel in schweren Falten bis über meine Schuhe. Der Halsausschnitt war hoch und eng anliegend und die Ärmel reichten bis über meine Handgelenke.
Aber mein Kopf war immer noch bloß und unbedeckt. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie Sandy den Schleier angelegt hatte, aber es war schwerer, als es ausgesehen hatte, und bei meinem ersten Versuch guckten überall Strähnen meiner strohblonden Haare heraus. Ich versuchte es noch einmal und ging zum Spiegel, um das Ergebnis zu überprüfen.
Sobald ich in den Spiegel sah, wusste ich, warum Sandy so entschlossen gewesen war, hinauszugehen. Bei Schleiern geht es ums Verstecken – und vor sich selbst kann man sich nicht verstecken. Es muss jemand dabei sein.
Deshalb war Sandy nach Battle Hill gegangen. Um Leute anzusehen, die sie nicht sehen konnten.
Es war ein idealer Ort für so ein Experiment – drei oder vier Straßen mit heruntergekommenen Mietshäusern, einer Moschee an einem Ende und einem Gemeindezentrum am anderen. Ich wusste nicht, wer in diesen Wohnungen wohnte, nur, dass die meisten Frauen Kopftücher trugen und ein paar von ihnen komplett verschleiert waren. Dort konnte man sich hinter einem Schleier verstecken, ohne aufzufallen.
Wie war das wohl?
Nun, die Chance, das herauszufinden, hatte ich wohl verpasst. Wenn ich es hätte wissen wollen, hätte ich mit Sandy im Auto dorthin fahren sollen. Jetzt konnte ich ihr nur in einem
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