Schöne Neue Welt
Schwärze
ein wenig umdüstert, wandte sie sich um und entdeckte im Winkel die kleine, schmächtige Gestalt und das melancholische Gesicht von Sigmund Marx.
»Sigmund!« Sie drängte sich zu ihm durch. »Ich habe Sie
schon gesucht.« Ihre klare Stimme übertönte das Surren des aufsteigenden Fahrstuhls. Neugierig wandten sich die anderen nach ihr um. »Ich wollte mit Ihnen über unsere Neumexiko-Reise sprechen.« Aus dem Augenwinkel gewahrte sie, wie
Benito Hoover vor Staunen den Mund aufsperrte. Das verdroß sie.
»Er wundert sich, daß ich ihn nicht bitte, wieder mit mir zu gehen«, dachte sie. Und mit betonter Herzlichkeit ergänzte sie laut: »Ich möchte furchtbar gern mit Ihnen im Juli für eine Woche wegfahren.« (Jetzt hatte sie ihre Untreue gegen Henry öffentlich kundgetan. Stinni durfte beruhigt sein, wenngleich es nur Sigmund war.) »Das heißt natürlich«, meinte sie und setzte ihr süßestes und vielsagendstes Lächeln auf, »wenn Sie mich noch haben wollen.«
-67-
Sigmunds blasses Gesicht wurde rot. »Warum, um Fords
willen?« fragte sie sich erstaunt und doch auch gerührt von dieser sonderbaren Huldigung.
»Wollen wir nicht lieber anderswo darüber sprechen?«
stotterte er entsetzlich verlegen.
»Er tut gerade so, als hätte ich was Unanständiges gesagt«, dachte Lenina. »Hätte ich einen gemeinen Witz gemacht, ihn etwa gefragt, wer seine Mutter war oder dergleichen, könnte er nicht fassungsloser aussehen.«
»Ich meine, hier sind so viele Leute...« Verwirrt brach er ab.
Lenina lachte freimütig und ganz ohne Spott. »Sind Sie aber drollig!« sagte sie (und sie fand ihn wirklich drollig).
»Lassen Sie es mich wenigstens eine Woche vorher wissen, ja?« fuhr sie in verändertem Ton fort. »Wir fliegen doch mit der Blauen Pazifikrakete? Von wo geht sie ab?«
Bevor Sigmund antworten konnte, hielt der Aufzug.
»Dach!« rief eine brüchige Stimme.
Der Fahrstuhlführer war ein kleines affenähnliches Geschöpf in der schwarzen Jacke eines epsilon- minus Halbkretins.
»Dach!«
Er riß die Türen auf. Vom warmen Glanz der
Nachmittagssonne geblendet, blinzelte er überrascht.
»Oh, Dach!« wiederholte er verzückt, als wäre er unvermutet und freudig aus dem lähmenden Dunkel des Nichts erwacht.
»Dach!«
Mit erwartungsvoller hündischer Anbetung sah er zu den
Gesichtern seiner Fahrgäste empor. Plaudernd und lachend traten die ins Licht hinaus. Der Aufzugwärter sah ihnen nach.
»Dach?« sagte er noch ein letztes Mal, wie fragend. Eine Klingel schrillte; der Lautsprecher über ihm in der Decke begann sehr leise und sehr gebieterisch Befehle zu erteilen.
-68-
»Hinunterfahren«, sagte die Stimme, »hinunterfahren!
Siebzehntes Stockwerk. Hinunter, hinunter. Siebzehntes.
Hinunter, hin -«
Der Fahrstuhlführer warf die Türen zu, drückte auf einen Knopf und sauste zurück in das surrende Dämmer des
Aufzugsschachts, zurück in das Dämmer seiner gewohnten
dumpfen Starre.
Auf dem Dach war es warm und strahlend sonnig.
Hubschrauber schwirrten mit einschläferndem Summen durch den Sommernachmittag; Raketen schössen acht, neun Kilometer oberhalb unsichtbar durchs Blau; ihr dumpferes Brummen lag wie eine Liebkosung in der warmen Luft. Sigmund Marx atmete tief, sah empor, ließ den Blick über den azurnen Horizont wandern und endlich auf Leninas Gesicht verweilen. »Wie
schön!« Seine Stimme bebte ein wenig.
Sie lächelte ihn voll innigen Verständnisses an. »Einfach großartig für Hindernisgolf!« meinte sie hingerissen.
»Aber nun muß ich rasch weg, Sigmund. Henry ärgert sich, wenn ich ihn warten lasse. Sagen Sie mir rechtzeitig Bescheid, wann wir reisen!« Sie winkte zum Abschied und lief über das Flachdach zu den Hangars. Sigmund sah dem Blinken der
weißen Strümpfe nach, das sich immer mehr entfernte, den sonnengebräunten Kniekehlen, die sich hurtig beugten und streckten, wieder und wieder, und dem gemächlicheren Wogen des knappsitzenden Kordhöschens unterhalb der flaschengrünen Jacke.
Schmerz lag in seinen Zügen.
»Hübsch ist die, das muß man sagen«, bemerkte eine laute, muntere Stimme hinter ihm.
Sigmund fuhr herum. Benitos rotes Mopsgesicht strahlte ihn mit sichtlicher Herzlichkeit an. Benito war bekannt für seine Gutmütigkeit. Er könnte mit dem Leben auch zurechtkommen,
-69-
sagte man von ihm, ohne jemals Soma anzurühren. Groll und schlechte Laune, derentwegen andere in die Somaferien flüchten mußten, befielen ihn nie. Die Welt war für
Weitere Kostenlose Bücher