Schöne Neue Welt
sich, oder lag viehischer Hohn in diesen
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stumpfen grauen Augen? »Vorwärts, beeilt euch!« rief er lauter, mit einem häßlichen Krächzen in der Stimme.
Er stieg in das Flugzeug; eine Minute später flog er
nordostwärts.
Die verschiedenen Propagandabüros und die Hochschule für Emotionstechnik befanden sich in ein und demselben sechzig Stockwerke hohen Gebäude in der Kochstraße. Im Erdgeschoß und in den unteren Etagen lagen die Druckereien und
Redaktionen der drei großen Berliner Tageszeitungen: des perlgrauen »Stündlichen Funk-Anzeigers« für die besseren Kasten, der »Grünen Gamma-Post« und des auf Khakipapier in lauter Hauptsätzen gedruckten »Kleinen Delta-Blatts«. In den darüberliegenden zweiundzwanzig Stockwerken waren die
Büros für Fernseh-,
Fühlfilm-,
Synthetovox- und
Synthetofonpropaganda untergebracht. Über ihnen lagen die Versuchslabors und die schalldichten Räume, in denen die Filmmusik und die Synthetokomponisten ihre heikle Arbeit verrichteten. In den obersten achtzehn Stockwerken befand sich die Hochschule.
Sigmund landete auf dem Dach des Propagandapalastes und
stieg aus.
»Sagen Sie Herrn Helmholtz Holmes-Watson, daß Herr
Sigmund Marx ihn auf dem Dach erwartet!« befahl er dem
gamma-plus Portier.
Er setzte sich und zündete sich eine Zigarette an.
Helmholtz Holmes-Watson schrieb gerade, als ihn der Anruf erreichte. »Sagen Sie, ich komme gleich!« antwortete er und legte auf. »Räumen Sie bitte diese Sachen da weg!« wandte er sich im gleichen unpersönlichen Ton zu seiner Sekretärin, schenkte ihrem strahlenden Lächeln keinen einzigen Blick und verließ rasch das Zimmer.
Er war ein kräftig gebauter Mann mit mächtigem Brustkorb und breiten Schultern; schwer, aber flink, federnd und gelenkig.
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Auf dem wohlgerundeten, festen Pfeiler seines Halses saß ein schön geformter Kopf. Sein dunkles Haar krauste sich, seine Züge waren markant. Eine Art überbetonter kraftvoller
Schönheit war ihm eigen; man sah sogleich: jeder Zoll ein Alpha-plus - wie seine Sekretärin zu wiederholen nie müde wurde. Er war Dozent am Lehrstuhl für Schriftsteller und arbeitete in seiner Freizeit als Gefühlsingenieur. Er schrieb regelmäßig für den »Stündlichen Funk-Anzeiger«, verfaßte Fühlfilmdrehbücher und besaß ein begnadetes Talent für
Merksprüche und Schlafschulverse.
»Begabt«, urteilten seine Vorgesetzten über ihn. »Vielleicht«, sie schüttelten dabei den Kopf und dämpften bedeutsam die Stimme, »vielleicht ein bißchen zu begabt.«
Jawohl, ein bißchen zu begabt; sie hatten recht. Eine geistige Überentwicklung hatte bei Helmholtz Holmes-Watson ganz
ähnliche Folgen wie die körperliche Unterentwicklung bei Sigmund Marx. Zu kleine Knochen und Muskeln hatten
Sigmund von seinen Mitmenschen getrennt, und die Erkenntnis seiner Besonderheit, die nach den geltenden Maßstäben eine geistige Ausschweifung war, hatte die K luft nur noch
vergrößert. Was Helmholtz dagegen sich seiner so unangenehm bewußt machte und ihn in die Einsamkeit trieb, waren zu große Geistesgaben.
Beiden gemeinsam war das Bewußtsein, daß sie Einzelfälle waren. Nur hatte der unterentwickelte Sigmund sein ganzes Leben lang unter seinem Anderssein gelitten, während
Helmholtz Holmes-Watson erst vor kurzem seine geistige
Überlegenheit entdeckt und seine Verschiedenheit von den Menschen rings um sich bemerkt hatte.
Dieser Feldtennismeister, dieser unermüdliche Liebhaber -
sechshundertvierzig Mädchen, hieß es, hatte er in knapp vier Jahren gehabt -, dieser hervorragende Versammlungsleiter und glänzende Gesellschafter hatte plötzlich erkannt, daß er Sport, Frauen und Dienst am Gemeinwohl nicht für das Höchste ha lten
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konnte. Im Grunde seines Herzens galten seine Interessen etwas anderem. Aber was war das? Ja, was? Sigmund besuchte ihn, um über dieses Problem mit ihm zu reden oder, besser gesagt, ihm wieder zuzuhören, denn Helmholtz besorgte das Reden immer ganz allein.
Drei reizende Mädchen aus dem Büro für
Synthetovoxpropaganda belagerten den Freund, als er den Aufzug verließ.
»Ach, Helmhöltzchen, kommen Sie doch mit uns zu einem
Nachtpicknick auf dem Brocken!« Flehend umschwärmten sie ihn.
Kopfschüttelnd bahnte er sich den Weg. »Nein!«
»Aber wir laden auch keinen anderen Mann dazu ein!«Selbst diese verlockende Zusage vermochte Helmholtz nicht
umzustimmen. »Nein«, wiederholte er, »ich habe zu tun.«
Entschlossen ging er
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