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Schöne Neue Welt

Schöne Neue Welt

Titel: Schöne Neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
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Halbgrammtabletten, und damit gut! Jeder kann heutzutage tugendhaft sein. Man kann mindestens sein halbes
    -239-

    Ethos in einem Fläschchen bei sich tragen. Christentum ohne Tränen - das ist Soma.«
    »Tränen sind unerläßlich. Erinnern Sie sich nicht an Othellos Worte? ›Wenn jedem Sturm so heitre Stille folgt, dann blast, Orkane, bis den Tod ihr weckt!‹ Ein alter Indianer erzählte uns bisweilen die Geschichte des Mädchens von Matsaki. Derjenige von den Jünglingen, der sie freien wollte, mußte einen Vormittag lang ihren Garten umgraben. Die Arbeit schien leicht.
    Aber es gab dort Fliegen und Moskitos, zauberkräftige. Die meisten Jünglinge hielten die Bisse und Stiche nicht aus. Nur der eine, der standhaft blieb, bekam das Mädchen.«
    »Sehr nett! Aber in zivilisierten Ländern kann man ein
    Mädchen haben, ohne ihren Garten umzugraben. Und es gibt keine Fliegen und Moskitos, die stechen können. Wir haben sie vor Jahrhunderten ausgerottet.«
    Stirnrunzelnd nickte der Wilde. »Ausgerottet, das sieht euch ähnlich. Alles Unangenehme ausrotten, statt es ertragen zu lernen! Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder, sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden... Ihr tut weder das eine noch das andere. Weder erdulden noch widerstehen. Ihr schafft nur die Pfeile und Schleudern ab. Ihr macht euch das zu leicht.«
    Er verstummte plötzlich und dachte an seine Mutter. In ihrem Zimmer im sechsunddreißigsten Stockwerk war Filine auf den Wogen singenden Lichts und liebkosender Düfte entschwebt, hinweggeschwebt aus Raum und Zeit, weg aus dem Kerker ihrer Erinnerungen und Gewohnheiten, befreit von ihrem alternden, gedunsenen Körper. Und Tomakin, ehemals Brut- und
    Normdirektor, war immer noch auf Urlaub - auf Urlaub von Demütigung und Schmerz, auf Urlaub in einer Welt, wo er das Gerede, das Hohngelächter nicht hören, das häßliche Gesicht nicht sehen, die feuchten, schwammigen Arme nicht mehr um seinen Hals fühlen konnte. In einer wunderschönen Welt...
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    »Was euch not tut«, sagte der Wilde, »ist etwas mit Tränen.
    Zur Abwechslung. Bei euch kostet nichts genug.«
    (»Zwölfeinhalb Millionen Dollar«, hatte Henry Päppler
    eingewandt, als ihm der Wilde gelegentlich dasselbe gesagt hatte,
    »zwölfeinhalb Millionen Dollar hat die neue
    Normzentrale gekostet, nicht einen Cent weniger.«) ›»Und gebt eu'r sterblich und verletzbar Teil dem Glück, dem Tode, den Gefahren preis für eine Nußschal'.‹ Ist da nicht etwas Wahres dran?« fragte er mit einem Blick zu Mustafa Mannesmann.
    »Von Gott gar nicht zu reden, obwohl Gott natürlich ein Grund wäre. Läßt sich nicht manches zugunsten eines Lebens der Gefahr sagen?«
    »Sehr viel sogar«, antwortete der Aufsichtsrat. »Männer ebenso wie Frauen müssen von Zeit zu Zeit ihre
    Adrenalindrüsen stimulieren lassen.«
    »Was?« fragte der Wilde verständnislos.
    »Es ist eine der Voraussetzungen für vollkommene
    Gesundheit. Darum haben wir den TLE-Behandlungszwang.«
    »TLE?«
    »Tolle-Leidenschaft-Ersatz. Regelmäßig einmal im Monat.
    Der ganze Organismus wird mit Adrenalin durchflutet. Es ist ein hundertprozentiges physiologisches Äquivalent für Angst und Wut. Erzielt genau die gleichen tonischen Wirkungen, wie Desdemona zu erwürgen oder von Othello erwürgt zu werden -
    ohne die Unannehmlichkeiten.«
    »Aber ich liebe die Unannehmlichkeiten.«
    »Wir nicht!« versetzte der Aufsichtsrat. »Uns sind die
    Bequemlichkeiten lieber.«
    »Ich brauche keine Bequemlichkeiten. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend.
    Ich will Sünde.«
    -241-

    »Kurzum«, sagte Mustafa Mannesmann, »Sie fordern das
    Recht auf Unglück.«
    »Gut denn«, erwiderte der Wilde trotzig, »ich fordere das Recht auf Unglück.«
    »Ganz zu schweigen von dem Recht auf Alter, Häßlichkeit und Impotenz, dem Recht auf Syphilis und Krebs, dem Recht auf Hunger und Läuse, dem Recht auf ständige Furcht vor dem nächsten Tag, dem Recht auf typhöses Fieber, dem Recht auf unsägliche Schmerzen jeder Art?« Langes Schweigen.
    »All' diese Rechte fordere ich«, stieß der Wilde endlich hervor.
    Mustafa Mannesmann zuckte die Achseln und sagte: »Wohl
    bekomm's!«
    -242-

    Achtzehntes Kapitel
    Die Tür war angelehnt; sie traten ein.
    »Michel!«
    Aus dem Badezimmer ertönte ein unangenehmes typisches
    Geräusch.
    »Michel! Kann man Ihnen helfen?« rief Helmholtz.
    Keine

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