Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schöne Neue Welt

Schöne Neue Welt

Titel: Schöne Neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
Vom Netzwerk:
einiger Zeit schien das Geziefer sich zu langweilen und flog weg; stundenlang blieb der Himmel über ihm leer und, bis auf die Lerchen, stumm.
    Das Wetter war atemberaubend heiß, ein Gewitter lag in der Luft. Er hatte den ganzen Morgen über gegraben und ruhte nun, auf den Fußboden hingestreckt. Und plötzlich wurde ihm Lenina zum Greifen gegenwärtig, nackt und duftend in Schuhen und Strümpfen, wie sie »Süßer!«
    sagte und »Leg deine Arme um mich!«. Schamlose Metze!
    Aber ach, ach, ihre Arme um seinen Nacken, das Wippen ihrer Brüste, ihr Mund! In unserm Mund und Blick war
    Ewigkeit. Lenina - nein, nein, tausendmal nein! Er sprang auf und stürzte halbnackt ins Freie. In einiger Entfernung stand am Rand der Heideflächen ein altersgrauer Wacholderbusch. Er warf sich mitten hinein, umschlang nicht den glatten Leib seiner Sehnsucht, sondern einen Armvoll grüner Dornen. Scharf, mit tausend Nadeln, stachen sie ihn. Er versuchte, an die arme Filine zu denken, die nicht mehr atmen und hören konnte, an ihre verkrampften Hände und die unsägliche Angst in ihren Augen; an die arme Filine, die er nie zu vergessen geschworen hatte.
    Aber Leninas Gegenwart verfolgte ihn noch immer. Lenina, die er zu vergessen gelobt hatte. Noch unter den Dolchen und Nadeln der Wacholderstacheln war sein zuckender Leib sich ihrer unentrinnbaren Wirklichkeit bewußt. »Süßer, wenn du mich haben wolltest, warum hast du es dann nicht -«
    Die Geißel hing an einem Nagel gleich hinter der Tür, zur Hand für Reporterbesuche. Wie wahnsinnig lief der Wilde ins Haus zurück, ergriff und schwang sie. Die Knoten bissen in sein Fleisch.
    »Metze! Metze!« brüllte er bei jedem Schlag, als wäre es Lenina - und wie rasend wünschte er unbewußt, sie wäre es! -,
    -253-

    die weiße, warme, duftende, niederträchtige Lenina, die er da geißelte. »Metze!« Dann, verzweifelt: »O Filine, vergib mir!
    Verzeih mir, Gott! Ich bin schlecht. Ich bin verrucht. Ich... Nein, nein, du Metze, du Metze!«
    Aus seinem sorgfältig errichteten Versteck im Wald,
    dreihundert Meter entfernt, hatte Darwin Schillings, der hervorragendste Großwildfotograf der Fühlfilmkorporation, den ganzen Vorgang beobachtet. Geduld und Geschick wurden
    belohnt. Drei Tage hatte er im Stamm einer künstlichen Eiche verbracht, war drei Nächte auf dem Bauch durch die Heide gekrochen, hatte Mikrophone in Ginsterbüschen verborgen und Drähte im weichen grauen Sand vergraben. Zweiundsiebzig
    höchst unbequeme Stunden. Aber nun war der große Augenblick da, der größte, sann er nach, während er sich zwischen seinen Apparaten hin und her bewegte, seit er den berühmten
    hundertprozentigen Brüll- und Fühlfilm der Gorillahochzeit gedreht hatte. »Glänzend«, sagte er bei sich, als der Wilde seine erstaunliche Aufführung begann. »Glänzend!« Erhielt seine Teleskopkamera, sorgfältig eingestellt, auf ihr bewegliches Ziel gerichtet, steckte eine stärkere Linse auf,
    um eine
    Großaufnahme des wahnverzerrten Gesichts bravo! - zu
    erlangen, schaltete dann, für eine halbe Minute, auf Zeitlupe um
    - wovon er sich eine unvergleichlich komische Wirkung
    versprach -, hörte inzwischen die Schläge, das Stöhnen und die wilden, tollen Reden ab, die er auf dem Tonstreifen am Rand der Filmrolle aufzeichnete, prüfte die Wirkung einer leichten Schallverstärkung - ja, so war es entschieden besser! -, hörte zu seiner Freude während eines windstillen Augenblicks den
    schrillen Gesang einer Lerche, wünschte sich, der Wilde würde sich umdrehen, damit er eine gute Großaufnahme seines
    blutigen Rückens machen könnte, und fast im selben
    Augenblick - ein verblüffendes Glück - wandte sich der gefällige Kerl um, und die Großaufnahme war glänzend
    gelungen.
    -254-

    »Also das war phänomenal!« sagte er sich, als es vorüber war.
    »Wirklich phänomenal!« Er wischte sich über das Gesicht.
    Wenn man dann noch im Studio die Fühleffekte einkopierte, war es ein wunderbarer Film. Fast so gut, dachte Darwin Schillings, wie sein »Liebesleben des Pottwals«, und das, bei Ford!, wollte schon etwas heißen!
    Zwölf Tage später wurde »Der Wilde von der Lüneburger
    Heide« zur Aufführung freigegeben und konnte in sämtlichen erstklassigen Fühlfilmpalästen Westeuropas gesehen, gehört und gespürt werden.
    Die Wirkung von Darwin Schillings' Film war sogleich
    ungeheuer. Am Nachmittag nach dem Premierenabend wurde
    Michels länd liche Einsamkeit durch die plötzliche Ankunft eines

Weitere Kostenlose Bücher